PRIMÄRTHERAPIE:
Was sie ist und was sie nicht ist

von Réal Beaulieu, MA, MFT, Primärtherapeut


(Geschrieben 1986, überarbeitet 1988 mit wichtiger Fußnote. Jahr 2000)

["Ich wurde von 1989 bis 1995 von Dr. Janov ausgebildet und arbeitete an seinem Primal Training Center als Primärtherapeut unter Aufsicht von 1993 bis 1995."]
Real Beaulieu


Dieser Artikel erschien ursprünglich in der Winter 1986-Ausgabe von "L'Orientation Professionelle". Der Autor, ein Primärtherapeut, wird bald von Los Angeles nach Montreal umziehen und plant, dort eine private Praxis zu eröffnen.

Réal Beaulieu glaubt, dass der Artikel historischen Wert hat und fruchtbare Diskussionen anregen kann. Seit seiner Niederschrift hat er (R.B.) sich einem fünfjährigen Training am Primal Training Center unter der Aufsicht Dr. Janovs unterzogen. Herr Beaulieu ist nicht mehr am Primal Training Center beschäftigt.

"Um den permanenten Rückzug in die Vergangenheit oder Dahinvegetieren zu verhindern, müssen wir jedem ungelösten Problem direkt in die Augen sehen, solange wir noch im Besitz unserer sensorischen Fähigkeiten und kognitiven Kapazitäten sind. Wir müssen den Staub aufdecken, den wir in unserem Leben unter den Teppich kehrten. Wir müssen unsere Gefühle aus der Flasche lassen, die wir zugekorkt haben. Wenn wir bis ins hohe Alter warten, warten wir zu lange."

-- Naomi Fail aus The Journal of Humanistic Psychology, Vol. 25, No 2, Spring 1985



In den siebzehn Jahren oder so, seitdem es die Primärtherapie gibt, habe ich viele Debatten darüber erlebt, was sie ist und was sie nicht ist. In diesem Artikel werde ich versuchen, die Situation zu klären, und zwar auf Grundlage meiner Erfahrung am Primal Institute von Los Angeles, meiner vielen Diskussionen mit Therapeuten, die von Janov ausgebildet wurden, und seiner jüngsten Publikationen. Ich betone das Wort "jüngsten", weil viele Kontroversen von seinem allerersten Buch "DER URSCHREI - PRIMÄRTHERAPIE - DIE HEILUNG DER NEUROSE"entfacht wurden.

Dieser Titel bereitete Arthur Janov eine Menge Ärger, obwohl er viele Klienten anlockte, besonders am Anfang. Zum einen veranlasste es eine weitgefasste Öffentlichkeit einschließlich vieler Psychologen, Primärtherapie mit "Urschreitherapie" gleichzusetzen, was sie nicht ist. Zum anderen fühlte sich eine große Zahl Professioneller wegen des magischen Obertones und der absoluten Bedeutung des Wortes "Heilung" abgestoßen. In dieser Hinsicht, so glaube ich, hat Janov sich selbst diskreditiert. Ich hörte ihn neulich sagen, dass er vielleicht den "Urschrei" nicht schreiben würde, wenn er noch einmal von vorne anfangen müsste. Eines ist gewiss: Er würde ihn ganz anders schreiben.

Nachdem dies gesagt ist, kann ich nun fortfahren, indem ich mein Bestes versuche, eine Beschreibung des wesentlichen Kerns der Primärtherapie abzugeben. Es ist eine Herausforderung für mich, auf wenigen Seiten über etwas so Einfaches und zugleich so Komplexes zu schreiben. Wenn wir verstehen wollen, wie eine Medizin wirkt, ist es hilfreich, zuerst die Natur der Krankheit zu verstehen. In diesem Falle heißt die Krankheit ‚Neurose', wobei wir annehmen, dass Psychose ein weiter fortgeschrittener Zustand psychischer Krankheit ist.

Wenige Jahre nach Publikation des Urschreis stieß ein junger Neurologe, Michael Holden, M.D., zu Janov und wurde der medizinische Direktor des Primal Institute, um in gemeinsamer Anstrengung die Primärtherapie auf eine wissenschaftliche und biologische Grundlage zu stellen. Zusammen brachten sie ein Buch heraus, das die Bibel der Primärtherapie wurde: Primal Man: The New Consciousness (Das neue Bewusstsein - Primal Man, S. Fischer Verlag 1977, Anm. d. Ü.)

Meiner Ansicht nach ist einer ihrer größten Beiträge zum Fachgebiet der Psychologie ihre Beschreibung, wie sich Neurose entwickelt, wie sie die Entwicklung des gesamten Gehirns beeinträchtigt und wie es möglich ist, den Prozess bis zu einem gewissen Grad umzukehren.

Janov hatte bereits geschildert, wie wir alle als Bedürfnisgeschöpfe geboren werden. Als Kinder müssen wir gefüttert, berührt und aufgenommen werden, wenn wir weinen, etc.. Später dann nehmen diese Bedürfnisse anspruchsvollere Gestalt an.

Man muss uns zuhören, verbal bestätigen, ermutigen, und so weiter. Mein Ziel ist es hier nicht, eine komplette Liste von Bedürfnissen zu liefern, sondern zu zeigen, wie Bedürfnisse, allgemein gesprochen, die Basis menschlicher Entwicklung sind. All diese Bedürfnisse können zu einer generellen Aussage zusammengefasst werden: Wir müssen geliebt werden, um gesunde Individuen zu werden und Erfüllung zu erlangen.

Wenn unsere Bedürfnisse nicht erfüllt werden, werden wir neurotisch und unglücklich. Ich nehme an, die meisten Psychologen würden soweit zustimmen. Die Schwierigkeit zeigt sich, wenn wir versuchen, wissenschaftlich zu bestimmen, was Neurose genau ist. Viel Theorien sind aufgestellt worden, aber nur sehr wenige sind zufriedenstellend, da sie sich anscheinend mehr auf abstrakte Konzepte verlassen als auf wissenschaftliche Fakten.

Die meisten von uns in den helfenden Berufen vermuten, dass neurotisch zu sein etwas damit zu tun hat, ‚verdrängt' zu sein. Auch der Psychopath, traditionell als die Antithese zum Neurotiker angesehen, muss schrecklich ‚verdrängt' sein, um seine äußerst verwerflichen Taten ausführen zu können. Aber was genau wird verdrängt? Sind es Impulse oder Wünsche, wie von Freud vorgeschlagen? Janovs Antwort ist folgende: Schmerz wird verdrängt.

"Jedes Mal, wenn wir einen Neurotiker öffnen, finden wir Schmerz. Es ist unsere fortwährende Beobachtung, dass Schmerz im Kern der Neurose liegt. Auch bei jenen Neurotikern, die keine Ahnung hatten, dass sie unter Schmerz standen, ist der Befund der gleiche.

Wenn die Bedürfnisse eines Kindes nicht beachtet werden, leidet es Schmerz. Wenn der Schmerz nicht zu überwältigend ist und zum Zeitpunkt der Deprivation ausgedrückt werden kann, weil die Eltern dem Kind das erlauben, ist der Schaden vielleicht minimal. Aber wenn ein Kind zum Beispiel geschlagen wird oder erkennt "Sie lieben mich nicht" oder "Ich werde nie bekommen, was ich brauche", dann befindet sich das Kind in Agonie und hat keine andere Wahl, als diese Erkenntnis vom Bewusstsein wegzusperren. Es wird ‚verdrängt' und ‚abgewehrt'. Es wehrt sich nicht gegen seine Impulse oder Wünsche, sondern gegen Schmerz, wie Janov gerne betont. Es wird neurotisch, um zu überleben.

Aber dieselbe Abwehr, die ihm zu überleben half, als es klein und völlig von den Eltern abhängig war, wird es ein ganzes Leben lang neurotisch bleiben lassen und es vielleicht umbringen, nicht nur psychologisch (sein reales Selbst) sondern auch physiologisch (Spannung, Krebs, Herzattacken, etc.). Janov bemüht sich in seinem Buch sehr zu zeigen, dass all das auf einer biochemischen und neurologischen Ebene geschieht.

"Die jüngsten Entdeckungen im Bereich der Endorphine deuten an, wie umfassend menschliches Verhalten von den Komponenten dominiert wird, die sich mit Schmerz und Verdrängung befassen. Endorphine sind morphinähnliche Substanzen, intern hergestellt, die als Analgetika funktionieren; das heißt, sie ‚handhaben' Schmerz."

Hier ist es wichtig anzumerken, dass zum ersten Mal in der Geschichte der Psychologie Verdrängung kein abstraktes Konzept ist, sondern ein biologisches, eine gemeinsame Grundlage, auf die sich Wissenschaftler und Psychologen einigen können. Des Weiteren gibt es die alte Unterscheidung zwischen Psyche und Körper nicht mehr, was die Dinge sehr vereinfacht.

In "Prisoners of Pain" (Gefangen im Schmerz, S.Fischer Verlag,1981) bietet Janov überzeugende Beweise an, dass emotionaler Schmerz und physischer Schmerz im Grunde vom Nervensystem auf die gleiche Art verarbeitet werden. Wenn zuviel Schmerz da ist, muss Verdrängung stattfinden, und sie findet statt. Verdrängung arbeitet nach dem Prinzip der Überlastung. Zuviel elektrische Stimulierung des Gehirns löst automatisch die Produktion von mehr Endorphinen aus, die den Schmerz erträglich machen und dem Individuum erlauben, weiterhin zu funktionieren.

Janovs Verständnis der Verdrängung scheint mit Fortschreiten der Wissenschaft in der Neurologie immer mehr Stichhaltigkeit zu erlangen. Zum Beispiel bietet das offizielle Lehrbuch für ein Seminar mit dem Thema "Physiologie des Verhaltens" (abgehalten an der University of California in Los Angeles) ähnliche Einsicht in den Prozess der Verdrängung, ohne das Wort als solches zu benutzen.

"Lassen Sie uns zuerst die Effekte unabwendbaren Schmerzes betrachten. Mehrere Experimente haben gezeigt, dass Analgetika durch die Anwendung schmerzhafter Stimuli produziert werden können, oder sogar durch die Anwesenheit nicht schmerzhafter Stimuli, die mit schmerzhaften kombiniert wurden. Zum Beispiel verabreichten Maier, Drugan und Grau (1982) Schocks, denen zu entkommen die Tiere erlernen konnten, indem sie eine (richtige) Antwort gaben. Obwohl beide Gruppen von Tieren die gleiche Anzahl an Schocks erhielten, wiesen nur diejenigen, die unausweichliche Schocks erhielten, Analgetika auf. Das heißt, als ihre Schmerzempfindlichkeit getestet wurde, stellte sich heraus, dass sie niedriger war als die der Kontrollsubjekte. Das Analgetikum wurde durch die Verabreichung von Naloxon aufgehoben, was anzeigt, dass es durch die Freisetzung von endogenen Opiaten (Endorphine) vermittelt wurde.... Die Resultate ergeben biologisch sehr wohl einen Sinn. Wenn Schmerz vermeidbar ist, dient er dazu, das Tier zu einer angemessenen Reaktion zu veranlassen. Wenn er(Schmerz)geschieht, was auch immer das Tier unternimmt, dann ist eine Reduzierung der Schmerzempfindlichkeit im besten Interesse des Tieres."

In unmittelbarem Zusammenhang mit dem Konzept der Verdrängung stehend, nehmen die Auffassungen von Bewusstsein und Unbewusstheit in Janovs und Holdens Theorie der Neurose ebenso eine rein biologische Bedeutung an. In Primal Man beschreiben sie drei Ebenen des Bewusstseins, eine jede mit ihrer eigenen speziellen Lage im Nervensystem. Im eigentlichen Sinne des Begriffs entdeckte er die physiologische Existenz dieser drei Ebenen jedoch nicht.

Dafür verlassen sie sich stark auf die Arbeit von Neurophysiologen wie Wilder Penfield, Paul McLean (A Triune Concept of the Brain and Behavior, Ein drei-einiges Konzept von Gehirn und Verhalten) und R. Melzack, um nur ein paar zu nennen. Von McLean, zum Beispiel, stammt die Auffassung, dass das Gehirn aus drei Hauptteilen bestehe, dem Reptiliengehirn, dem alten und dem neuen Säugetiergehirn).

Nichtsdestotrotz sind Janov und Holden Meister darin, eins und eins zusammenzuzählen, und sie demonstrieren üppig die Beziehung zwischen diesen drei Teilen des Gehirns und ihren eigenen Beobachtungen, dass einige ihrer Patienten sich an Ereignisse bis zu ihrer Geburt zurück erinnern konnten. Auf dieser Beobachtung basierend beschreiben sie drei Typen des Gedächtnisses, die mit den drei Ebenen des Bewusstseins einhergehen: ein intellektuelles Gedächtnis (new-mammalian , dem neuen Säugetiergehirn zugehörig), ein emotionales Gedächtnis (old-mammalian, dem alten Säugetiergehirn zugehörig) und ein viszerales Gedächtnis (reptilian, dem Reptiliengehirn zugehörig).

Wenn man ihnen folgt, dann erinnert sich der Körper, auch wenn wir uns intellektuell nicht an ein frühes Trauma erinnerten. Zum Beispiel zeigt in Primal Man, The New Consciousness (Anhang D) ein Photo die wieder auftauchenden Blutergüsse auf dem Schenkel einer 56 Jahre alten Frau, nachdem sie wiedererlebte, wie sie im Alter zwischen 5 und 13 Jahren regelmäßig mit einer Reitpeitsche geschlagen wurde.

"Solche Phänomene illustrieren anschaulich das Prinzip, dass jede Körperzelle Schmerz fühlen und registrieren kann und dadurch zur Totalität des Bewusstseins beiträgt. Schmerz solchen Ausmaßes kann von einem Kind, für das er zu überwältigend ist, nicht voll integriert und erfahren werden. Primals haben vollen Zugang zu diesen frühen überwältigenden Schmerzen und erlauben Erwachsenen, sie wiederzuerleben und endlich zu integrieren. Wenn solcher Schmerz in Primals nicht wiedererlebt wird, dann muss das Individuum eine ständige metabolische Anstrengung gegen den Schmerz ausüben. Der hypermetabole Zustand, der als Reaktion auf viele Kindheitsschmerzen entsteht, ist Neurose. Nur Primals können den neurotischen Zustand umkehren."

Und das ist die Essenz der Primärtherapie. Kurz gesagt, Schmerzen, die vom Bewusstsein abgeblockt werden, werden im Körper als neurophysiologische Erinnerungen gespeichert. Dieser Schmerz wartet darauf, ausgedrückt zu werden, und der Körper schreit danach, es zu tun. Die Rolle des Primärtherapeuten besteht darin, dem Patienten zu helfen, den Schmerz, der unterdrückt wurde, wiederzuerfahren und auszudrücken, mit voller Verknüpfung zu der Quelle des traumatischen Ereignisses oder der anhaltenden schmerzvollen Situation, die die Verdrängung zuerst entstehen ließ.

Darüber zu reden ist wichtig, aber nicht ausreichend, weil die gespeicherte Energie des Urschmerzes nicht freigesetzt wird und fortfährt, in den neuralen Schaltkreisen des Gehirns wiederzuhallen. Gemäß Janov wird der Schmerz, wenn er nicht in einem Primal ausgedrückt wird, bestenfalls umgeleitet und lässt verschiedene Symptome entstehen.

Es ist die Rolle der Abwehr (jedes Verhalten kann eine Abwehr sein), den Schmerz verdrängt zu halten. Es ist die Rolle des Primärtherapeuten, über den Rand der Abwehr hinauszuschauen und den Ausdruck der begrabenen Gefühle zu begünstigen. Nach meiner Erfahrung benutzen Janov und seine Therapeuten keine dramatische Supertechnik, um das Abwehrsystem zu überschreiten. Falls sie es in der Vergangenheit taten, so tun sie es jetzt nicht mehr. Im Allgemeinen erfüllen einfache Fragen oder Bemerkungen den Zweck. Was der "Leerer Stuhl-Technik" von Fritz Perls zum Beispiel am nächsten kommen würde, wäre, den Patienten zu seiner/ihrer "Mama" oder "Papa" oder irgendeiner relevanten Person sprechen zu lassen.

Wo genau befindet sich Janov unter den drei größten Schulen der Psychologie? Seine Behauptung, dass neurotische Symptome das Resultat verdrängten Schmerzes sind, weist ihn als Behavioristen aus, weil Behavioristen hauptsächlich daran arbeiten, das Symptom zu eliminieren. Andererseits hat Janovs Ansatz eine Menge gemeinsam mit dem psychoanalytischen Ansatz. Sein Beharren auf der Vergangenheit, dem Unbewussten, der Verdrängung und den Abwehrmechanismen sollte dies offenkundig werden lassen.

Er könnte auch als humanistischer Psychologe betrachtet werden, und zwar aus folgendem Grund: Er sieht das menschliche Wesen als grundsätzlich gut. Unbefriedigte Bedürfnisse lassen eine Person alle Arten von Symptomen entwickeln und auf neurotische Weise agieren. Darüber hinaus sind alle Patienten für ihr eigenes Wachstum verantwortlich (Die Fähigkeit zu fühlen und zu verknüpfen lässt ihnen größere Wahlfreiheit), auch wenn sie alle Opfer der Vergangenheit waren, und sie müssen Verantwortung für ihr eigenes Leben übernehmen, um endlich zu bekommen, was sie brauchen. Siehe wichtige Bemerkung

In der Tat betrifft die Hauptkritik, die ich in Bezug auf die Primärtherapie habe, nicht so sehr die Theorie oder den Prozess selbst, sondern die Art, wie das Primal Institute geführt wurde, als ich dort war. Zum Beispiel war es meine Erfahrung, dass viele Patienten nicht die persönliche Aufmerksamkeit und die Nachbetreuung erhielten, die notwendig war um sicher zu stellen, dass sie mit ihrem Leben gut zurechtkamen.

Auch besteht bedingt durch die Natur der Primärtherapie die Gefahr, das der Primärpatient, dem die Heilung versprochen worden ist, zuviel Hoffnung und Vertrauen auf "Gefühle" allein setzt. Ich muss betonen, dass diese Bemerkung besonders auf die frühen Tage der Primärtherapie zutrifft. In jenen Tagen wurde der Primärprozess als potentiell gefährlich angesehen, auch von Janov selbst.

Der Prozess, mit seinen Gefühlen in Berührung zu kommen und sie auszudrücken, ist in sich selbst nicht gefährlich. Er kann nur heilen. Die wirkliche Gefahr steht an, wenn der Patient mit mehr Schmerz konfrontiert ist als er oder sie handhaben und integrieren kann (Überlastung). Dies passiert wahrscheinlich, wenn sich die Lebensqualität einer Person verschlechtert oder sich einfach nicht verbessert. Wir alle verstehen sehr gut, dass eine miserable Gegenwart in Verbindung mit einer miserablen Vergangenheit nur zur Verzweiflung führen kann.

Es scheint mir, dass der Prozess der Primärtherapie verbessert werden könnte, wenn die Therapeuten der Lebensqualität ihrer Patienten mehr Aufmerksamkeit widmen würden. In diesem Sinne würde ich eine Umkehrung des Verfahrens vorschlagen. Anstatt sich am Anfang auf den Schmerz zu konzentrieren, sollte man dem Patienten zuerst zu einem besseren Leben verhelfen. Zur rechten Zeit wird der Schmerz aufsteigen.. Wenn die Therapie auf diese Weise angewandt wird, kann der Patient nicht verlieren und das Risiko einer Überlastung ist praktisch eliminiert.

Ich habe noch andere Kritikpunkte. Zum Beispiel empfand ich die Kosten des ‚Drei-Wochen-Intensivs' als unerschwinglich und sogar antitherapeutisch aus eben diesem Grund. Lassen Sie mich erklären. Das ‚Intensiv' ist lediglich die Spitze des Eisberges. Einige Leute müssen jahrelang arbeiten oder verbrauchen ihre gesamten Ersparnisse, um einen Prozess lediglich zu "starten", der vielleicht ein ganzes Leben andauert. Das setzt sie unter enormen Druck, "alte Gefühle zu fühlen" (hier ‚Primals' genannt) und führt manchmal zur Abreaktion oder dazu, dass man zu angestrengt versucht, die Therapie zu machen. Anders gesagt wird die Sache unnatürlich und deshalb antitherapeutisch. Noch einmal, das ist eine Diskussion darüber, wie die Therapie angewandt werden sollte, kein In-Frage-Stellen der Theorie selbst. Man kann tausend Trips um die Welt unternehmen, ein berühmter Schriftsteller werden oder Filmstar, bewundert von Millionen, und sich dennoch elend fühlen. Die Art von Schmerz, über die wir reden, verschwindet nicht einfach wegen einer Veränderung des Lebensstils. Letztlich muss man sich damit befassen und es fühlen als das, was es ist.

Ein Satz schließlich, den Janov in Prisoner of Pain schrieb, resümiert, wenn Sie mich fragen, auf wunderschöne Weise den wesentlichen Kern der Primärtherapie: "Die Geschichte psychiatrischer Erkrankungen ist nichts anderes als die Geschichte der Traurigkeit; und dennoch, niemand zog den Schluss, dass traurige Menschen weinen sollten." Alle Kinder sind ein Beweis für die Tatsache, dass wütend zu werden oder spontan zu weinen als Reaktion auf eine Verletzung natürlich und heilsam ist.
___________________

-WICHTIGE BEMERKUNG-

In diesem Artikel habe ich versucht, die Primärtherapie mit den Begriffen der Freudianischen, Kognitiv-Behavioristischen und Existenziell-Humanistischen Psychologie zu klassifizieren. Letztere betont stark die Verantwortlichkeit des Klienten für sein/ihr gegenwärtiges und zukünftiges Wachstum.

Die Gefahr hierbei ist, die ungeheure Verantwortung des Therapeuten in diesem Wachstumsprozess zu ignorieren. Ein uneingestandener Fehler (vor allem ein krasser) des Therapeuten oder der Autoritätspersonen (therapiebezogen), besonders wenn sie vom Patienten konfrontiert werden, kann zu katastrophaler Überlastung in einem Primärklienten beitragen. Diese Überlastung kann lebenslang andauern.

Das verschlimmert sich noch, wenn im Namen klinischer Fachkenntnis der Fehler von einer ganzen Gruppe von Therapeuten oder Autoritätspersonen gebilligt wird. Dann wird dem Klienten die Realität weggenommen, was schreckliche Konsequenzen nach sich ziehen kann, einschließlich Selbstmord und Psychose. Für viele Primärpatienten bedeutet Primärtherapie ihre letzte Hoffnung. Wohin sollen sie sich wenden, wenn die Menschen, die ihnen diese Hoffnung gaben, sich abwenden und die Gültigkeit ihrer Realität, Wahrnehmungen und Gefühle auf dieselbe Weise verleugnen wie es ihre Eltern taten?

Wir haben alle die Verantwortung, uns selbst als Therapeuten kritisch zu betrachten und den Folgen unserer Taten ins Auge zu sehen. Es ist menschlich, Fehler zu machen, aber es ist unmenschlich, sie zu verleugnen, wenn so viel auf dem Spiel steht. Die wesentlichen Eigenschaften eines guten Therapeuten sind Bescheidenheit und Nicht-Abgewehrtheit. Es ist ein gravierender Fehler, nicht sagen zu können: "Du hast Recht. Es tut mir Leid."


Sie können dem Autor schreiben unter primal@consultant.com


EMaK www.emak.org ist eine Webseite für Erwachsene Misshandelt als Kinder. Über die Erfahrungen einer misshandelten Kindheit zu sprechen ist oftmals der erste Schritt auf einem langen Weg die unsichtbaren Wunden zu heilen.

-- Sieglinde W. Alexander



Über die Erfahrungen einer misshandelten Kindheit zu sprechen ist oftmals der erste Schritt auf einem langen Weg die unsichtbaren Wunden zu heilen. Sieglinde W. Alexander ist der Moderator einer Deutschen Yahoo-Supportgruppe für Erwachsene die als Kinder misshandelt wurden. http://de.groups.yahoo.com/group/aaacworld


Return to Primal Home Page

Go to the German Articles Index