Schuldgefühle – Zwangsjacke der Gefühle
Wir alle kennen Schuldgefühle, wirkliche ebenso wie eingebildete. Allgemein fällt es nicht schwer, dieses Gefühl wahrzunehmen, im Gegensatz etwa zu Scham, an die gefühlsmäßig heran zu kommen durchschnittlich viel schwerer ist. Real sind Schuldgefühle da, wo wir für etwas zuständig und verantwortlich sind. Was uns jedoch behindert, sind irrationale Schuldgefühle - weil sie uns blind machen für unser eigentliches, dahinter verstecktes Empfinden. Statt dessen ketten sie uns an eine nie endende Tretmühle von Selbstvorwürfen.
Ungelöste, irrationale Schuldgefühle führen zu unbewusstem und selbstschädigendem Verhalten. Sie können uns aber als ein Zugang zu unserem wirklichen, authentischen Selbst dienen.
Rationale Schuld
Sie entspringt dem, was wir im Lauf unseres Lebens als richtiges und falsches Verhalten verinnerlicht haben. Wirkliche Schuld wird dann gefühlt, wenn wir gegen die eigenen innersten Grundsätze und Werte verstoßen und dadurch unsere persönliche Integrität untergraben. Indem wir reale Schuld wahrnehmen, hören wir auf einen Alarm, der es und meldet, wenn wir dabei sind, unsere moralische Integrität zu verletzen. Indem wir auf diese Integrität achten, sind wir ehrlich uns selbst gegenüber.
Wenn wir reale Schuld wahrnehmen und beachten, dann bewerten wir unser Verhalten authentisch und übernehmen die Verantwortung. Wir geben zu, dass es besser wäre, sich anders zu verhalten und nehmen uns vor, in Zukunft anders zu handeln. Wir stellen uns den Folgen unserer Taten und bringen gegenüber denen, die wir verletzt haben, unser aufrichtiges Bedauern zum Ausdruck.
Echtes Schuldgefühl weist auf persönliche Verantwortung hin und ist Ausdruck emotionaler Reife. Es sind irrationale Schuldgefühle, die ein echtes Problem darstellen.
Irrationale Schuld
Irrationale Schuldgefühle sind wie ein innerer Nebelschleier, der verhindert, dass wir klar erkennen, wer wir eigentlich sind. Sie wird errichtet aus Selbstvorwürfen und Selbstbeschuldigungen. Das Festhalten an falschen Schuldgefühlen dient aber der Abwehr von Gefühlen der Angst und der Bedrohung, von Bedürftigkeit und von Schmerz und aller möglichen Gefühle, die wir uns selbst lieber verbergen. Diese unter der Oberfläche liegenden Gefühle zuzulassen und wahrzunehmen vermeiden wir, indem wir in falschen Schuldgefühlen stecken bleiben. Und zugleich nehmen wir vorhandene Alternativen nicht wahr und berauben uns der Möglichkeit, wirkungsvoll die Situation zu verändern.
Wie jede Abwehr so hat auch irrationales Schuldgefühl den Sinn, uns ein Gefühl der Kontrolle zu verschaffen, wo wir sie nicht wirklich haben. Diese überflutenden Gefühle von Hilflosigkeit vermeiden wir, indem wir uns selbst zwanghaft für alles die Schuld geben. Wenn beispielsweise etwas Tragisches passiert, über das wir keinerlei Kontrolle haben, dann vermindern wir unser Gefühl der Ohnmacht dadurch, dass wir uns einbilden, eine Schuld zu tragen an dem, was geschehen ist. Als Kinder war genau das die einzige Wahl, die wir hatten. Als emotional gereifte Erwachsene hingegen können wir das herbe Gefühl unserer vollständigen Machtlosigkeit und Niederlage zulassen. Das ist dann etwas Reales und kann als integrierte Erfahrung im Geflecht unseres Lebensteppichs verwoben werden.
Wenn wir aber für Vorgänge die Verantwortung übernehmen, über die wir keine Kontrolle besitzen, dann können wir sicher sein, dass dieses irrationale Verantwortungsgefühl von dem als Kind erfahrenen Schmerz herrührt. Wurden wir beispielsweise mit viel „Du musst“ erzogen, dann sind wir voller Wut. Wurde uns zudem beigebracht, dass Wut etwas böses ist, dann werden wir uns nicht erlauben, diese Wut zu fühlen, sondern statt dessen werden wir uns schuldig fühlen. Wir werden die Wut gegen uns selbst richten. Und genau das ist irrationales Schuldgefühl. Denn in der Tat, als Kinder haben wir keine andere Wahl, als uns selbst die Schuld zu geben, wenn wir den Anforderungen nicht genügen.
Angesichts kritischer und urteilender Eltern fürchten wir deren Ablehnung. Diese Furcht ganz zu fühlen, überlastet uns so, dass wir statt dessen ein Schuldgefühl entwickeln, mit dem wir uns selbst bestrafen. Denn wirklich gewinnen wir über diese Selbstverurteilung einen Anschein von Kontrolle: “Warum war ich nur nicht brav?“, „Was stimmt mit mir nicht?“, „Ich mach’ immer so ein Durcheinander“ oder sogar „Ich bin böse“.
Schuldgefühle werden zu einer völlig vertrauten Empfindung
Wenn wir uns chronisch mit Schuldgefühlen zudecken, machen wir uns völlig zu Unrecht vor, verantwortungsvolle Menschen zu sein. Tatsächlich ist aber, sich ständig schuldig zu fühlen, eine Methode, um Verantwortung zu vermeiden. In Wirklichkeit funktioniert es nicht, wenn man versucht, sich über den Umweg von Schuldgefühlen gut zu fühlen.
Je mehr irrationale Schuld wir empfinden, desto mehr verdrängen wir unsere wahren Gefühle und desto weniger emotional gesund sind wir tatsächlich. Ab dem Moment, wo wir als Erwachsene verstehen, dass Schuldgefühle eine Form der Abwehr gegen das Fühlen von Schmerz sind, haben wir die Wahl: wir können ihn jetzt wahrnehmen, wir können mit ihm arbeiten, wir können uns jetzt klarer fühlen und kennen lernen und erlangen die Freiheit zu sein, wer wir wirklich sind.
D entsprach dem Wunsch ihres Vaters und studierte erfolgreich. Sie brachte es sogar fertig, sich mit ihm am Familientisch über Themen der Weltpolitik zu streiten, wozu ihr ältester Bruder, ein Versager in den Augen ihre Vaters, nicht in der Lage war.
Jahre danach empfand D ein nagendes Schuldgefühl dafür, dass es ihr so viel besser ging wie diesem Bruder von ihr. Sie konnte, dass sie es zu etwas gebracht hatte und Glück gehabt hatte, nicht genießen. Statt dessen war sie auf eine ganz unvernünftige Art wütend auf diesen Bruder, und zugleich wieder voller Selbstvorwürfe, genau deswegen. Als ihr klar wurde, wie sehr sie sich selbst das Leben schwer machte und wie innerlich zerrissen sie war, nahm sie Hilfe in Anspruch.
Mit der Zeit wurde ihr klar, in welch unmöglicher Situation sie sich als Kind befunden und welchen Einfluß das auf ihr Leben gehabt hatte. Sie kam dahin, zu fühlen, wie sehr sie zerrissen war zwischen einerseits ihrem Bedürfnis, von ihrem Vater geliebt und anerkannt zu werden und andererseits ihrer Solidarität und ihrem Mitgefühl für ihren Bruder. Sie konnte schließlich fühlen, wie wütend sie auf den Vater war, ihren Bruder so zu behandeln, wie er es getan hatte und ihr diese lebenslangen Schuldgefühle aufzuzwingen.
Der Druck dieser Schuldgefühle lies merklich nach, als D fortfuhr, für sich diese Verbindungen zu machen und diese Zusammenhänge aufzuklären. Danach war sie in der Lage, auf ihren Bruder zuzugehen und mitfühlend zu sein, ohne sich für seine Schwierigkeiten verantwortlich zu fühlen.
Die Quellen der Schuldgefühle in der Kindheit
In dem Maß, wie wir als Eltern nicht dazu in der Lage sind, die Verantwortung für unsere Gefühle, Gedanken und Handlungen selbst zu übernehmen, leiten wir sie ab auf unsere Kinder. „Du machst mich wütend, dass ich schreien könnte“, „da siehst du, wozu du mich gebracht hast“ und „wenn du nicht aufhörst, bringst du mich noch ins Grab“ – jedes mal wälzen wir die Verantwortung auf das Kind ab - Beispiele für den eklatanten und allgegenwärtigen Missbrauch von Schuldgefühlen zur Ausübung von Kontrolle.
Die Auswirkung einer derartigen Kindheit ist, dass die Last an Schuld und Verantwortung bis ins Erwachsenenalter beibehalten wird. Unsere unbewusste Überzeugung, dass „mit uns was nicht stimmt“, dass „es an uns liegen muss“ bewirkt, dass wir uns grenzenlos verantwortlich fühlen, gefangen in der Vorstellung, dass, wenn wir doch nur besser wären, wenn wir doch nur anders wären, dass wir dann doch, endlich, die elterliche Anerkennung bekommen würden. Wir bleiben in der unbewussten Überzeugung gefangen, für die Gefühle und für das Glück der Anderen verantwortlich zu sein. So entstehen irrationale Schuldgefühle, die wir ausagieren, indem wir Verantwortlichkeiten übernehmen, die nicht unsere sind.
Anweisungen wie „Du musst“ „Du darfst nicht“ lösen Schuldgefühle aus. Wenn wir den unbedingten Willen unserer Eltern spüren, dass wir uns benehmen, gut aussehen und brav sind und wenn wir zugleich nicht imstande sind, so zu sein, wie sie es sich wünschen, dann fühlen wir höchstwahrscheinlich eine schwer auf uns lastende Schuld. Wir sind gegenüber den Zwischentönen im Verhalten unserer Eltern sehr sensibel, wir bekommen noch ihre subtilste Ablehnung mit und wir fühlen uns automatisch und zwangsläufig verantwortlich dafür.
Die Allgegenwart von Schuldgefühlen in der Gesellschaft
Werbung arbeitet mit Scham, mit Unzufriedenheit, sowie mit Schuldgefühlen. Je mehr wir als Kinder unter unserer eigenen Unzulänglichkeit litten, um so mehr Unzufriedenheit mit uns selbst empfinden wir heute und um so leichter kann uns Werbung ködern. Mit anderen Worten, je mehr Schuldgefühle wir aus unserer Kindheit mit uns herumtragen, desto verführbarer sind wir. Schuldgefühle verhindern, dass wir in uns hinein und auf unsere wirklichen Bedürfnisse hören. Wir werden empfänglich gegenüber dem, was Werbung uns verspricht.
Frauen, die ebenso oft Adressat wie Übermittler von Werbebotschaften sind, fühlen sich oftmals schuldig, egal, was sie tun. Eine meiner Klientinnen meinte sogar mal, sie fühle sich schuldig dafür, Schuldgefühle zu haben.
Durch Gefühlsarbeit irrationale Schuldgefühle auflösen
In dem Maß, wie wir uns fühlend mit den Verästelungen irrationaler Schuldgefühle befassen, gewinnen wir die Freiheit, uns selbst anzunehmen. Wir können aufhören mit selbstzerstörerischen Gedanken, Gefühlen und Verhaltensweisen. Sowie wir aufrichtig unsere tatsächlichen Gefühle fühlen, können wir zwanghafte, irrationale Schuldgefühle loslassen.
Dieser Prozess beruht auf unserer Fähigkeit, uns selbst dauerhaft emotional zu heilen. Ich wiederhole, dass dies etwas ganz anderes ist, als der Versuch, die Gedanken zu verändern, um auf diesem Weg die Gefühlen zu verändern oder gar positive Gedanken aufzusagen, um so die negativen in Schach zu halten.
Schuldgefühle können eindeutig wahrgenommen werden und sowie wir das tun, können wir prüfen, ob es sich um rationale Schuldgefühle handelt, die auf ein tatsächliches, aktuelles Problem hinweisen oder ob sie nicht irrationaler Natur sind. Falls wir zu dem Schluss kommen, dass es sich um irrationale Schuldgefühle handelt, können wir uns fragen: „Was würde ich eigentlich fühlen, wenn ich mich nicht schuldig fühlen würde?“ Die Antwort darauf wird tief aus unserem Inneren aufsteigen. Vielleicht fühlen wir so etwas wie Angst, große Traurigkeit, Wut, Verzweiflung oder Hilflosigkeit.
Angespannt bis an die Grenze des Erträglichen
Je mehr wir uns erlauben, in die Schuld hinein zu fühlen, um so eher sind wir in der Lage, das Schuldgefühl zu fühlen - anstatt von ihm angetrieben zu werden. Falls unser Verhalten, ohne dass wir uns dessen bewusst sind, getrieben ist von dem Verlangen, Schuldgefühle zu vermeiden, dann kann es sein, dass wir uns in einer dauernden Überanspannung befinden und zugleich überhaupt keinen Kontakt haben zu was wir wirklich brauchen und zu wer wir wirklich sind. Wahrscheinlich verbringen wir viel Zeit mit Dingen, für die wir uns weder interessieren noch die uns Spaß machen. Wir verausgaben uns völlig und überschreiten dabei jedes Maß und sind zugleich unfähig, Hilfe in Anspruch zu nehmen. Egal, wie sehr wir uns auch anstrengen, ist es doch nie genug. Um Schuldgefühle zu vermeiden, erlauben wir unseren [auch: inneren d. Ü.] Kindern etwa alles, anstatt mit ihnen in Kontakt zu sein. Wir können diese Daueranstrengung und diesen Druck, Schuldgefühle zu vermeiden, so sehr gewohnt sein, dass wir schließlich glauben, dieser Grundzustand des Ausgelaugtseins sei normal. Wenn wir längere Zeit in diesem Zustand verharren, laufen wir irgend wann gegen eine Mauer und stellen eines Morgens fest, dass wir unser Bett nicht mehr verlassen können.
Schuldgefühle als Warnsignal
Noch mal, es ist wichtig, Schuldgefühle als Warnsignal zu verstehen. Sei es, dass wir einer wirklichen Schuld gewahr werden, weil wir selbst unsere Integrität verletzt haben oder sei es, dass wir, abgetrennt von unserem Kindheitsschmerz. eine irrationale Schuld fühlen.
Manchmal ist es auch nicht so offensichtlich, dass es Schuldgefühle sind, die wir empfinden. Sobald wir uns rechtfertigen, sowie wir uns verteidigen oder Entschuldigungen vorbringen fühlen wir uns vermutlich schuldig. Wir können diese Verhaltensweisen als Indikatoren nehmen, um zu erkennen, dass wir uns wieder schuldig fühlen und uns wieder so verhalten, als wären wir tatsächlich schuldig. Wir können wahrnehmen, wie schnell wir uns schuldig fühlen, sowie uns nur irgend jemand seine Anerkennung verweigert. Wir können wahrnehmen, wie wir in negativer Weise mit uns selbst im Gespräch sind. Dies deutet jeweils darauf hin, dass wir uns wegen irgend einer Sache schuldig fühlen.
Anstatt aber den Versuch zu unternehmen, unsere negativen Selbstgespräche mit guten Vorsätzen zu beenden, können wir sie zulassen und dessen gewahr werden, was wir eigentlich fühlen.
Etwas nervös erklärte C., dass sie sich eigentlich ständig für irgend etwas schuldig fühle. Sie erinnerte sich, wie sie sich als Kind schuldig gefühlt hatte und es war ihr klar, wie sehr ihr Leben heute, als Erwachsene, von ihren Schuldgefühlen kontrolliert wurde. Daran wollte sie was ändern, weil sie wusste, wie sehr sie dabei war, sich selbst kaputt zu machen in dem Versuch, es allen ihren drei Kindern recht zu machen und dass, was sie auch für ihren verwitweten Vater tat, es ihm nie genug war. Und zu all dem hatte sie auch noch einen ziemlich verantwortlichen Job als Buchhalterin eines kleinen Familienbetriebs und hatte für ihren Mann die zahlreichen Geschäfts-Einladungen ihrem eleganten Eigenheim auszurichten.
C nahm ihre Therapie sehr ernst und machte sich gewissenhaft daran, ihre Vergangenheit aufzuzeichnen, Familienbilder anzusehen und die Schulen aufzusuchen, in die sie gegangen war. Und doch fiel es ihr nicht leicht, an ihre Gefühle heran zu kommen – wofür sie sich prompt schuldig fühlte. Als sie gebeten wurde, bei diesem Gefühl zu bleiben und sie sich tiefer darauf einließ, begann sie zu schluchzen. Langsam wurde ihr klar, wie wenig sie von ihrem eigenen Leben bisher gehabt hatte. Das war der Beginn ihrer Heilung.
Schuldgefühle als verschleierte Angst
Man kann lernen, sich seiner Ängste bewusst zu werden, wenn einem erst einmal klar wird, wie oft Schuldgefühle Angst maskieren. Das erlaubt es einem dann, an die Stelle von Selbstvorwürfen Selbstbeobachtung treten zu lassen und sich so Fragen zu stellen wie: „was hatte ich eigentlich sagen wollen?“, „warum hab’ ich das eigentlich gemacht?“, „Was hätte ich eigentlich statt dessen lieber getan?“ und „wovor habe ich Angst?“
C, in dem obigen Beispiel, fand die Verbindung zu den vielen Anlässen, wo sie sich als Kind schuldig gefühlt hatte. Sowie sie einmal albern tat war ihr Mutter gleich dabei gewesen, zu sagen „was sollen bloß die Nachbarn denken?“ C konnte zunehmend fühlen, wie sehr sie es als Kind gefürchtet hatte, nicht geliebt zu werden, wenn sie etwas nicht leisten konnte. Und es ist für Kinder katastrophal zu fühlen, dass sie die Liebe ihrer Eltern verlieren könnten.
Indem wir es unserer natürlichen Heilungstendenz erlauben, die Vergangenheit wieder zu erleben, kommen wir in Kontakt damit all der Angst, die wir als Kinder gefühlt haben und wie sehr diese Angst sich mit Schuldgefühlen verbunden hat. Aus einem von Angst geprägten Kind wird ein von Angst geprägter Erwachsener.
Schuldgefühle als verschleierte Wut
Sowie man versteht, dass Schuldgefühle oft Ärger und Wut überlagern, kann man sich bewusst die Frage stellen, was es denn ist, das einen wütend macht. Ist man etwa bereit, seine ewig fordernde Mutter zu besuchen, obwohl einem gar nicht danach ist, so mag der wahre Grund dafür sein, sich nicht schuldig fühlen zu müssen. Der Preis dieser Unaufrichtigkeit ist indes, an der so verdrängten und abgespaltenen Wut zu leiden, die eigenen Gefühle zu verleugnen und ebenso, den eigenen Bedürfnissen nicht gerecht zu werden. Wir sind eher bereit, uns selbst zu verletzen, als Aufrichtigkeit zu riskieren. Indem wir es schaffen, unser Schuldgefühl und unsere Angst vor der Wut zu fühlen, beginnen wir, eine Wahl bezüglich dem zu haben, was stimmiger für uns und ehrlicher ist. Wer sich öfter schuldig fühlt als wütend kann davon ausgehen, dass es ihm/ihr lieber ist, Schuldgefühle zu haben, anstatt sich der vorhandenen Wut zu stellen. Sowie man sich traut, erst sich selbst und dann auch anderen die Wahrheit über die eigne Wut einzugestehen, entfernt man den aus Schuldgefühl gewirkten Schleier. Dies hilft, all der Knoten zurückgehaltener Wut gewahr zu werden, die sich durch das Gewebe unseres gesamten Lebensteppich ziehen.
Eine meiner Klientinnen sprach es aus: „Mein Schuldgefühl veranlasst mich, Dinge zu tun, die ich nicht möchte, mit Menschen, die ich nicht mag.“ Sie fand heraus, dass sie viel weniger wütend war, seit sie besser für sich selbst sorgte und es unterlies, Dinge zu tun, die sie im Grunde genommen gar nicht wollte. Und wenn jemand anderes sie dafür „egoistisch“ nannte, zeigte sie es, wie wütend sie das machte. Indem sie sich auf diese Wut tiefer einließ, kam sie an Szenen ihrer Kindheit, als ihre einfachsten Bedürfnisse von ihrer eigenen, selbst von Wut geprägten Mutter „egoistisch“ genannt worden waren. Seither achtet sie besser auf sich und erlangt so auch ein deutlicheres Selbstempfinden, was paradoxerweise wiederum dazu führt, dass sie sich besser um andere kümmern kann, insbesondere um die eigenen Kinder.
Als C mit der Angst, die sie als Kind gehabt hatte, in Kontakt kam und sie fühlend zuließ, wurde sie sehr wütend. Als sie durch die Wut, die sie auf ihre Eltern hatte dafür, dass sie so fordernd und rigide ihr gegenüber gewesen waren, durch war, wurde ihr zunehmend klarer, wie sie selbst sich hier und heute verhalten wollte. Sie unternahm es, ihrem Vater mitzuteilen, was sie bereit war, für ihn zu tun und was nicht. Mit ihrem Mann, was seine Geschäftseinladungen anging, verhandelte sie bestimmte Abmachungen, so dass sie nicht mehr die ganze Verantwortung tragen musste. C erlebte keine plötzlichen, großen Veränderungen, aber sie war dankbar sich selbst gegenüber für jeden kleinen Schritt, der ihr gelang, auf dem Weg hin zu mehr Aufrichtigkeit und zum Fühlen des Schuldgefühls anstatt von ihm angetrieben zu sein.
Schuldgefühle verdecken Gelegenheiten, den eigen Werten entsprechend zu leben
Wenn man erkennt, wie wichtig es ist, sich selbst treu zu sein, um ein aufrichtiges und also emotional gesundes Leben zu leben, dann kann man auch damit beginnen, sich besser um sich selbst zu kümmern. Und für Menschen, die sich selbst zuunterst auf ihrer Agenda stehen haben oder die in ihrem eigenen Gleichungssystem gar nicht erst vorkommen, kann das zu einer echten Herausforderung werden.
Es ist nichts ungewöhnliches, wenn man von einer Sache überzeugt ist, aber einer anderen Überzeugung entsprechend lebt. Beispielsweise ist das dann der Fall, wenn der erwachsene Anteil in uns weiß, dass einem Unterstützung bei der Hausarbeit zusteht, aber ein aus der Kindheit stammendes Schulgefühl es verhindert, diese Hilfe zu beanspruchen. Wenn wir der in uns wohnenden natürlichen Heilungstendenz folgen und uns fühlend auf des Kind einlassen, das wir einst waren, dann können wir es schaffen, dass Kopf und Bauch wieder an einem gemeinsamen Strang ziehen. Wir können uns gut mit dem fühlen, wovon wir wissen, dass es richtig ist und können in Übereinstimmung mit unserem echten authentischen Selbst leben.
Je mehr uns das gelingt, desto mehr haben wir von unserem Leben. Es kommt zu einer positiven Verstärkung: je mehr es uns gelingt, uns selbst die Treue zu halten und durch unsere Schuldgefühle hindurch zu fühlen, um so besser fühlen wir uns und um so mehr gelingt es uns, für uns selbst gut zu sorgen.
Irrationale Schuldgefühle halten uns gefangen
Irrationale Schuldgefühle halten uns gefangen, weil wir Dinge tun, die wie nicht wollen, nur um einem Schuldgefühl zu entgehen oder weil wir uns schuldig fühlen und uns das dann Dinge tun lässt, die weder uns noch unseren Beziehungen gut tun. Es ist die Falle einer entsetzlichen Abwehr, in der man auf diese Weise gefangen ist.
G litt unter sehr seinen Schuldgefühlen. Über ein Jahr hatte er jetzt eine Beziehung mit einer Frau bei seiner Arbeitsstelle. Er fühlte sich sowohl schuldig dafür, ihr weh zu tun, weil er seine Ehefrau nicht verließ und er fühlte sich seiner Ehefrau gegenüber schuldig, weil er sie tagtäglich betrog. Als er in dieser Situation um Unterstützung bat, war er ziemlich fertig und wusste nicht weiter.
Sein Schuldgefühl ermöglichte es ihm, zu glauben, er sei ein im Grund unheimlich fürsorglicher Mann, der nur leider und ganz ohne eigenes Zutun in dieser Situation gefangen war. Eigentlich hatte er ja an seiner Ehe überhaupt nichts auszusetzen und sah sich daher auch nicht veranlasst, sie aufzugeben. Er konnte auch anerkennen, wie sehr er sich wegen seiner Frau Sorgen machte, ihm das Wohlergehen seiner Frau am Herzen lag. G war bereit, seine Vergangenheit zu erforschen, obwohl er erst nicht sehen konnte, wie sie mit seinem akuten Dilemma zusammenhing.
Um so erstaunter war er, sich selbst in Tränen zu finden, als er mir erzählte, wie es ihm in der High School als Basketball-Ass endlich gelungen war, die Anerkennung seines Vaters zu finden. G war gerade 19, als sein Vater starb und das einzige mal, an das er sich erinnern konnte, dass sein Vater von ihm Notiz genommen hatte, war, als er seine Basketballspiele in der Schule anschauen kam. Nach und nach konnte G sich dem Schmerz und dem Mangel an Zuwendung öffnen, unter dem er als Kind gelitten hatte.
Als er diese Bedürfnisse fühlen konnte und wie sie ihn in diese Affäre getrieben hatten, gelang es ihm, eine Entscheidung zu treffen. Er beendete die Afaire. G traute sich, seinen enormen Mangel zu fühlen - anstatt in seinen Schuldgefühlen stecken zu bleiben.
Ich hatte auch andere Klienten, die nicht so bereit waren, Schuldgefühle los zu lassen, Verantwortung zu übernehmen und Affären zu beenden. Die es vorzogen, lieber weiter ihren Partnern gegenüber unehrlich zu sein und mittels Schuldgefühlen in Abwehr zu verharren, anstatt ihre Gefühle zu fühlen. Es waren Klienten darunter, die in Therapie kamen, weil sie dann das Gefühl hatten, etwas zur Veränderung ihrer Situation zu tun - um damit ihr Schuldgefühl zu beschwichtigen. Überflüssig zu sagen, dass es keine gute Therapie wäre, wenn man hier dem Klienten dabei helfen würde, sich selbst etwas vorzumachen. Zentral ist in diesem Fall, der Person zu der Erkenntnis zu verhelfen, wie sie in ihrem Schuldgefühl feststeckt.
Das größte Geschenk, das wir den uns nahe Stehenden machen können ist, als Mensch so echt und ganz wir zu sein, wie es uns nur möglich ist. Das sind wir dann, wenn es uns gelingt, für unsere Gefühle selbst die Verantwortung zu übernehmen, sie zu zeigen und wenn wir gut für uns sorgen. Und wenn wir wissen, was wir brauchen und wir in der Lage sind, darum zu bitten und es auch an zu nehmen – anstatt von Schuldgefühlen gesteuert zu sein.
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[Übersetzung: Reinhold W. Rausch]
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