Psychotherapie ist ebenso die Kunst wie die Wissenschaft vom Lindern emotionaler Probleme. Es gibt viele Arten von Psychotherapie, die alle darauf abzielen, den Klienten wissen und verstehen zu lassen, was in seinem Unterbewusstsein vorgeht. Im Gegensatz dazu wollen nur wenige tatsächlich dieses Unterbewusstsein verändern. Wenn aber das da lagernde Material nicht verändert wird, behält es seine enorme Kraft, immer wieder auch ein noch so starkes Ego zu überfahren. Wenn das passiert, nennt man das „Neurose“ - und im Endergebnis endet dieser Vorgang immer in emotionalem Schmerz.
Das Unterbewusstsein ist in erster Linie eine Aufzeichnung der Vergangenheit und ein Speicher früheren psychischen und physischen Drucks und Spannung. Diese Spannungen können von Ereignissen in der Gegenwart ausgelöst, getriggert werden, so dass sie jetzt in der Gegenwart gefühlt werden. Weil sie aus dem Unterbewusstsein stammen, sind wir uns aber ihres wahren Ursprungs nicht bewusst. So haben wir den Eindruck, diese sehr mächtigen Kräfte seien hier und jetzt entstanden und wir glauben, die Person oder die Situation, die diese Spannungen in uns ausgelöst hat, seien deren realer Grund – wenn diese in Wirklichkeit vielleicht nur den geringsten Anteil daran haben.
Psychoanalyse, scheint mir, will diese bislang unbewussten Quellen von akuten Spannungszuständen und die sie begleitenden falschen Vorstellungen erkennbar und durchschaubar machen, damit der Klient auf der Basis dieses Wissens sein Verhalten bewusst verändert.
Im Gegensatz dazu geht es bei der Primär- Psychotherapie darum, den Druck und die Spannung des im Unterbewusstsein gespeicherten Materials selbst zu vermindern, um so die Lebensqualität zu verbessern. Denn dadurch werden diese Spannungen weniger leicht ausgelöst und das Maß, in dem sie auf das Bewusstsein einwirken können, sinkt beträchtlich.
In einer Sitzung tue ich zunächst nichts anderes, als Klienten dabei zu helfen, sich ihrer bis dahin unbewussten Erinnerungen sehr deutlich bewusst zu werden (wobei ich es sorgfältig vermeide, irgend etwas nicht Vorhandenes zu suggerieren). Tatsächlich findet ein Wieder- Erleben der Vergangenheit statt. Motivationen, die bis dahin in Dunkeln lagen, werden dem Klienten plötzlich offensichtlich. Nichts davon wird durch den Therapeuten interpretiert oder analysiert.
Durch meine uneingeschränkte Akzeptanz ermutige ich zugleich den Klienten, das gleiche zu tun: die Realität seiner Entdeckung zu akzeptieren, dass nämlich der Schmerz, den er als Kind erlebt hat, teilweise so groß und so anhaltend war, dass er verdrängt werden musste und dass diese vergessenen Erinnerungen und die damit verbundenen Spannungszustände die Ursache für ein Leben voll von emotionalem Schmerz, psychosomatischen Krankheiten, neurotischen Gedanken und Vorstellungen sowie von Abwehrhaltung und von selbstschädigendem Verhalten wurden.
Oft entdecken Klienten, dass durch die Wände, die sie um den Schmerz herum aufgebaut haben, sie nicht nur ihre Empfindlichkeit für Schmerz gesenkt, sondern dass sie damit auch ihre Fähigkeit zu lustvollem Erleben vermindert haben. Indem sie nach und nach den alten Schmerz, dem sie ausgesetzt waren, auf sich zukommen lassen, bauen sie Zug um Zug das Mitgefühl sich selbst gegenüber, das sie unterdrücken mussten, neu auf. Das bereichert zunehmend ihr Mitgefühl auch für andere und ihre Fähigkeit, Nähe und Zuneigung zu empfinden.
Ich denke, die meisten Therapeuten und Laien zweifeln nicht am Wert kathartischen Erlebens im Zusammenhang von akutem Trauma, beispielsweise wenn man mit Weinen die Trauer um den Verlust einer nahestehenden Person ausdrückt. Die erlebte Spannung kann dadurch erheblich vermindert werden. Aber auch längst vergessen geglaubtes, früheres Trauma enthält, wenn auch unbewusst, ein erhebliches Maß von innerer Anspannung. Und von genau dieser inneren Spannung rührt diese dramatische Kraft neurotischer Zwänge. „Ich weiß, dass es mich selbst zerstört, aber ich sehe nichts, was ich sonst tun könnte.“ Durch verbundenes, auf die Vergangenheit bezogenes, kathartisches Erleben werden neurotische Impulse erheblich geschwächt und manche verschwinden sogar für immer.
An dieser Stelle in Therapie- Sitzungen verlagert sich der Schwerpunkt der Arbeit vom Unbewussten hin zu einer Integration des Unbewussten mit dem Bewusstsein und von da ganz auf das Bewusstsein. Eben weil der Klient sein ganzes Leben lang von unbewussten neurotischen Impulsen gesteuert war, gibt es Bereiche, in denen es ihm an Erfahrung, relativ unneurotisch zu leben, fehlt. Da konzentriert Therapie sich dann auf das Erkunden neuer Beziehungen, neuer Arten, das Leben zu inszenieren, und auf die ganz besonders lustvollen, tiefen Gefühle, die zugänglich werden, wenn tatsächlich das Bewusstsein und nicht das Unterbewusstsein die innere Führung übernimmt.
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© 1993, all rights reserved, H. Lawrence King
Übersetzung Reinhold W. Rausch