Die Rolle Therapeutischer Berührung In Der
Primal - Orientierten Therapie



Von Pat Törngren



"Wichtig am verwundeten Heiler (ein Therapeut, der selbst gelitten hat) ist,
dass er oder sie in ihrem eigenen Heilungsprozess weit genug fortgeschritten
sein müssen, um ihren Patienten keinen Schaden zuzufügen, sondern ihnen helfen zu können, ebenfalls gesund zu werden."

--Pat Törngren



WARUM THERAPEUTISCHE BERÜHRUNG WICHTIG IST

Eines der mächtigsten Instrumente in der Psychotherapie ist angemessene körperliche Berührung. Der Grund dafür ist, dass Berührung die äußerst komplizierte Abwehr der dritten Ebene umgehen kann und uns direkt in Erinnerungen der zweiten oder sogar der ersten Ebene (ganz am Lebensanfang) versetzen kann. Das rührt daher, dass der Teil des Gehirns, der körperliche Berührung registriert, viel primitiver ist als der Teil des Gehirns, der Emotion (Schmerz zweiter Ebene) oder rationale Gedanken (Schmerz dritter Ebene) registriert. Ich persönlich bin ein Primaller, der es normalerweise am leichtesten findet, sich in seine Gefühle ‚hineinzureden'. Dennoch gibt es Zeiten, in denen ich herausfinde, dass der Gebrauch nicht-verbaler Werkzeuge wie Musikhören, Berührung durch einen Therapeuten oder Umarmung durch einen Primärkumpel mir Zugang zu Gefühlen verschafft, die ich auf keine andere Weise erreichen kann.


DIE DEBATTE UM BERÜHRUNG IN DER THERAPIE

Die meisten nonverbalen Methoden, Menschen in ihre Gefühle zu versetzen (wie Musikhören), sind ziemlich neutral, und niemand gerät ihretwegen aus der Fassung, aber wenn das Thema ‚Therapeutische Berührung' zur Sprache kommt, wird die Debatte hitzig. Der Grund hierfür ist, dass Berührung sehr leicht zu unangebrachtem sexuellen Ausagieren werden kann oder zur Überschreitung intimer Grenzen führt. So muss Berührung durch einen Therapeuten in der Tat sehr sorgfältig gehandhabt werden, besonders von einem Therapeuten, der anderen Geschlechts ist als der Patient. Therapeuten wandeln hier auf schmalem Grat, und wenn das Problem diskutiert wird, kann der Streit ziemlich hitzig werden, wie es kürzlich auf der Primal Psychotherapy Page geschah.

Der Zankapfel war ein Buch von Dr. Paul Vereshack, in dem er gestand, einer Patientin erlaubt zu haben, ihn in einer sexuellen Weise zu berühren, damit sie Erinnerungen ihres eigenen sexuellen Missbrauchs als Kind wiedererleben könne. (Dr. Vereshack gibt nun zu, dass dies eine gefährliche Praxis ist. Obwohl die betreffende Patientin das Gefühl hatte, ihr sei geholfen worden und ihn verteidigte, erklärte er, das nie mehr zuzulassen). Dr. Stephen Khamsi antwortete auf dieses Buch mit einem sehr wortgewaltigen Artikel, in dem er Dr. Vereshack kritisierte. Obwohl ich mit vielen Argumenten, die er vorbrachte, übereinstimmte, fand ich Dr. Khamsis Artikel sehr feindselig im Ton (was die Wirkung dessen, was er sagte, etwas reduzierte).

Dr. Vereshack antwortete mit einem leidenschaftlichen Plädoyer, das Therapeuten erlaubt sein müsse, Berührung im fürsorglichen Sinne bei Patienten anzuwenden, wenn sie es bräuchten. An diesem Punkt wurde das Thema von verschiedenen Leuten auf der Nachrichten - Plattform der Primal Psychotherapy Page (Primal Psychotherapy Page Message Board) aufgegriffen und hitzig debattiert, wobei die Leute unterschiedlich Partei ergriffen. Einige lobten Dr. Vereshack für seine Aufrichtigkeit, während andere ihn angriffen. Einer machte sich stark für seine (Dr. Vereshacks) Verteidigung und wurde schroff abgewiesen, weil er ihn nicht allein in eigener Sache sprechen ließ. Emotionen schäumten hoch, und die gesamte Debatte schien weit mehr Hitze als Licht zu erzeugen.


MEINE ERFAHRUNGEN MIT BERÜHRUNG IN DER PRIMÄRTHERAPIE

Ich habe eigene Erfahrungen in klassischer Primärtherapie, nicht so sehr in Therapien wie der Reichschen, Rolfing oder Radix, wo Berührung oft angewandt wird. Nichtsdestotrotz wandten während meiner Zeit als Primärpatientin am Primal Institute in L.A. in den 1970ern einige der Therapeuten Berührung an, um mir zu meinen Gefühlen zu verhelfen.

Im ersten Fall beredete ich mit meinem Therapeuten, warum ich Angst davor hatte, den Leuten zu nahe zu kommen. Ich redete über den Tod meiner Oma. Ich habe meine Oma wirklich sehr geliebt und ich war die Person, an die sie sich um Liebe wandte, nachdem mein Großvater starb. Als es dem Ende zuging, wurde sie ziemlich senil und erkannte oft die anderen Familienmitglieder nicht. Aber mich erkannte sie immer. Ich besuchte sie jeden Abend, saß bei ihr und hielt ihre Hand. Sie klammerte sich immer an mich, da sie nicht wollte, dass ich gehe. Für mich war das erschreckend. Obwohl ich sie sehr liebte, kam in mir die Furcht auf, dass sie durch ihr Festhalten versuche, mich zusammen mit ihr "in den Tod zu reißen."

Ich erinnere mich, wie ich das meiner Therapeutin sagte. Ich saß in dem Therapieraum, nahe bei ihr, und hatte meine Augen beim Reden geschlossen. Plötzlich ergriff sie meine Hand und hielt sie fest, genau so als wäre sie meine Oma. Ein paar Sekunden lang verfiel ich in einen Schock, und dann begann ich tief zu weinen. Ich hatte ein langes verknüpftes Primal, in dem ich meiner Oma sagte , wie sehr ich sie liebte, aber dass ich nicht mit ihr gehen könnte. Sie musste mich loslassen und mir erlauben weiterzuleben.(Das Feeling begegnete mir nie wieder und ich glaube, es wurde in dieser einen Sitzung aufgelöst, indem meine Therapeutin meine Hand nahm.)

Bei einer anderen Gelegenheit machte ein anderer Therapeut etwas Ähnliches. In der "Post-Gruppe" stand ich auf und begann zu kämpfen, um mich in ein Gefühl ‚hineinzureden'.(Ich erinnere mich jetzt nicht mehr, welches es war). Ich erinnere mich nur, wie die Therapeutin, Sherry, zu mir sagte: "Pat, du kannst dich immer sehr gut ausdrücken und leicht über deine Gefühle reden. Sag' nichts mehr. Komm und setz' dich einfach auf mein Knie." Ich tat es, und sie hielt mich, als ich weinte. Die Einsicht, die ich hinterher hatte, war, dass ich das Bedürfnis hatte von meiner Mutter gehalten zu werden, aber sie war keine sonderlich ‚greifbare' Person. So war Reden die einzige Möglichkeit für mich, wie ich sie erreichen konnte. Aber das war nicht, was ich wirklich wollte. Ich wollte nicht, dass ich reden musste, um mich meiner Mutter nahe zu fühlen. Ich wollte geherzt und gehalten werden, wie Sherry es intuitiv für mich getan hatte.

Die einzige weitere Erfahrung mit Berührung, die ich während der Zeit am Primal Institute hatte, war nicht so erfolgreich. Es war in der letzten Woche meiner "Drei -Wochen - Intensivphase". In dieser Woche wurden wir einem "Co - Therapeuten" vorgestellt, der von anderem Geschlecht war als der (die) Therapeut(in), mit dem(der) wir normalerweise arbeiteten. Mein Co - Therapeut war ein großer Mann - sanft, freundlich und fürsorgend, aber sehr groß. Für mich, ein Opfer von sexuellem Missbrauch in der Kindheit, war er ein bisschen überwältigend. Nichtsdestotrotz hatte ich ein tiefes Primal in meiner Sitzung mit ihm. Nachher sagte er zu mir: "Du hast eine Menge durchgemacht heute. Komm' und lass' mich dich einfach halten." Ich entsprach seiner Bitte und er setzte sich auf den Boden und hielt mich. Aber ich fühlte mich sehr unbehaglich und "gefror" buchstäblich. Würde mir das heute passieren, wäre ich in der Lage zu sagen: "Nein danke. Ich weiß, du meinst es gut, aber ich möchte lieber nicht von einem Fremden berührt werden."


FÜRSORGLICHE BERÜHRUNG KONTRA THERAPEUTISCHE BERÜHRUNG

Die oben dargestellte Illustration (in der englischen Version, Anm. d. Ü.) wirft einen interessanten Punkt auf. Es ist eine ganz andere Sache, wenn mich mein Therapeut nach einem Primal hält, um mich zu beruhigen, als wenn man jemanden berührt, um seinen Schmerz hervorzubringen. Während letztere Art von Berührung durch einen Therapeuten oft angemessen ist, kann erstere alle möglichen Schwierigkeiten mit sich bringen. Wir sind alle menschliche Wesen und brauchen körperliche Berührung um zu gedeihen, aber die Frage ist, sollten wir sie primär von unseren Therapeuten erhalten? Oder sollten wir ermutigt werden, sie auf anderem geeigneten Wege zu finden? Wenn schließlich Umarmen und Halten alles wäre, was wir bräuchten um zu genesen, wären wir alle schon vor Jahren gesund geworden. Tatsächlich wäre Therapie die leichteste Sache der Welt. Alles, was wir bräuchten, wären Umarmungen!

Der entscheidende Punkt an der Primärtherapie ist, dass wir den Schmerz dessen fühlen müssen, was wir nicht in der Vergangenheit bekommen haben, und keine noch so große Anzahl an Umarmungen in der Gegenwart wird das ändern; tatsächlich kann es uns vom Fühlen abbringen. Was ein Therapeut einzig tun kann um es aufzulösen, ist uns zu helfen, die Deprivation unserer Kindheit zu fühlen. Andererseits aber ist es tatsächlich wahr, dass viele Leute in der Gegenwart vom Schmerz des Alleinseins völlig überwältigt sind. Manchmal brauchen sie die beruhigende Berührung eines Therapeuten oder Kumpels, um die Schmerzüberlastung zu reduzieren. Erst dann können sie Zugang erlangen zu der primären Erinnerung überwältigender früher Einsamkeit in ihrem Leben. Das wiederum würde man als therapeutische Berührung einstufen.

Ich fühle mich auch nicht unwohl bei einem Therapeuten, der den Patienten am Ende der Sitzung umarmt, vorausgesetzt, es geschieht spontan oder der Patient verlangt es, und vorausgesetzt, sowohl der Patient als auch der Therapeut fühlt sich wohl dabei. Aber wenn es zu einer Sache wird, die ständig gewünscht wird, entweder vom Patienten oder vom Therapeuten, dann müssen wir anfangen, es näher zu betrachten und nach dem ‚Warum' zu fragen. Das ist besonders wichtig, wenn entweder der Patient oder der Therapeut beginnt, sich in der Situation unwohl zu fühlen. Wenn wir etwas tun, wobei wir uns unbehaglich fühlen, werden wir "inkongruent" (nicht übereinstimmend, Anm. d. Ü.) mit unseren Gefühlen, und das führt zu Verwirrung und ist besonders nachteilig in der Therapie.

Was ich als sehr behaglich empfinde, ist von meinen Primärkumpeln umarmt und gehalten zu werden. Viele Jahre lang betrieben wir eine Primal-Buddy Support-Group (eine Art primärtherapeutischer Selbsthilfegruppe, Anm. d. Ü.) in meinem Haus in Kapstadt, und die meisten Leute umarmten und begrüßten die anderen bevor und nach jeder Sitzung. Während der Gruppensitzung jedoch war Berührung auf die Art begrenzt, wie sie benutzt wird, um Gefühle in der anderen Person hervorzubringen. (Wir machten daraus nie eine Regel, es geschah einfach spontan). Wir waren auch frei genug, nach Berührung zu "greifen", wenn wir sie brauchten. Zum Beispiel erinnere ich mich an eine Gruppensitzung, in der ich tief in Gefühlen darüber steckte, dass meine Bedürfnisse in der frühen Kindheit nicht erfüllte worden waren. Ich weinte wie ein kleines Baby und krabbelte instinktiv über den Boden in die Arme meiner besten Freundin Twanee, die mich hielt, während ich primalte.

Aber die Beziehung unter Primärkumpeln und die zwischen einem Therapeuten und einem Patienten sind ganz verschieden. In der formalen Therapie ist stillschweigend eine Arzt/Patient-Beziehung inbegriffen, auf Grund der Tatsache, dass Geld den Besitzer wechselt und der Therapeut ein Profi ist. Dies führt dazu, dass der Patient ungeachtet seines Alters oft Mami oder Papi oder andere bedeutende Gestalten der Kindheit auf den Therapeuten projiziert. Aus diesem Grund und auch weil bei den meisten von uns als Kind unsere Intimgrenze ständig von den Erwachsenen um uns herum verletzt wurde, würde ich mich sehr unbehaglich fühlen, wenn mein Therapeut mich in jeder Sitzung berühren wollte. (Es wäre eine Wiederholung meiner Kindheit, und ich würde mich zu fragen beginnen, ob er versucht meinen Bedürfnissen nachzukommen oder seinen eigenen).


ANGEMESSENE THERAPEUTISCHE BERÜHRUNG

Der Therapeut, bei dem ich momentan bin, berührt mich sehr selten. Einmal geschah es, als ich in einem Geburtsfeeling war und in der fetalen Position lag, ihm meinen Rücken zugewandt. Meine Haltung drückte eine nonverbale "Bitte" um Berührung aus. Intuitiv nahm er meine Bitte auf und legte seine Hände auf meinen oberen Rücken, genau auf die richtige Stelle, und das half mir tiefer in das Gefühl zu gehen. Als ich genug gehabt hatte, entfernte ich mich. Mir fällt nur noch eine weitere Gelegenheit ein, bei der mich berührte. Trotzdem fühle ich mich wegen der Wärme und Fürsorge, die von ihm ausgeht, als sei ich nach jeder Sitzung umarmt und gehalten worden, auch wenn er mich nicht körperlich berührt hat.

Interessant: Als er im Urlaub war, arbeitete ich mit seinem "Ersatzmann" zusammen, der auch sehr warmherzig und fürsorglich war. Ich war in der Lage, in meiner ersten Sitzung mit ihm ein Geburtsprimal zu haben. Am Ende der Serie unserer Sitzungen sagte ich zu ihm: "Ich möchte dich wirklich gerne umarmen, aber ich weiß, es ist nicht angemessen, also darf ich deine Hand schütteln?" Zu meiner Überraschung sagte er: " Umarmung ist okay." So streckte ich meine Arme nach ihm aus und er umarmte mich herzlich. Das brachte eine Menge meines Schmerzes über Missbrauch in der Kindheit durch Männer empor. Ich wusste, da wurden entscheidende Punkte berührt, mit denen ich mich befassen musste. So bat ich noch um ein paar Sitzungen mehr, und ging noch einige Male zurück, bis eine kurze Umarmung am Ende der Sitzung keinen ungelösten Schmerz mehr hochbrachte. Aber ich war froh, als ich zu meinem Stammtherapeuten zurückkehren konnte. Obwohl er keine Umarmungen anbietet, fühle ich bei ihm mehr Sicherheit und "Umfassung" als es bei irgendeinem anderen Therapeuten der Fall war.


SEXUELLE BERÜHRUNG IN DER THERAPIE

Während nicht-sexuelle Berührung ein wirksames therapeutisches Instrument ist, ist sexuelle Berührung eine völlig andere Sache. Kürzlich hörte ich von folgenden zwei Vorfällen: Beim ersten bot die Therapeutin einem männlichen Patienten ihre Brust zum Saugen an. Beim zweiten zog in einer Gruppensitzung eine Therapeutin ihre Kleider aus und lud ihre Patienten ein, ihren nackten Körper zu massieren (mit Ausnahme der sexuellen Zonen). Ich wollte einfach nicht glauben, was ich hörte. Viele Jahre lang habe ich Arthur Janov öffentlich kritisiert, weil er ständig alle Therapeuten, die nicht bei ihm ausgebildet wurden, als "Pseudo-Primärtherapeuten" bezeichnete. Aber wenn man solche Geschichten hört, kann man einige Sympathie für ihn empfinden. Wenn das Primärtherapie ist, dann ist es ‚verrückt gewordene' Primärtherapie! Und Vorfälle wie dieser werden der Primärtherapie sicher einen schlechten Ruf verleihen.

Die Lady, die ihre Brust dem Patienten zum Saugen anbot, machte drei schlimme Fehler. Erstens sagt sogar Dr. Vereshack, der fürsorgliche Berührung erlaubt, dass sie nach seinen Regeln immer vom Patienten verlangt werden muss und nicht vom Therapeuten. Zweitens sagte der Patient, dass es keine Primärgefühle hochgebracht hat, wenn er es auch als erfreulich und genüsslich empfand, an der Brust seiner Therapeutin zu saugen. Das deutet darauf hin, dass ihr ‚Timing'(Wahl d. richtigen Zeitpunkts, Anm. d. Ü.) falsch war, auch wenn es nicht-sexuelle Berührung gewesen wäre, was sie anbot. Aber drittens - und das ist am wichtigsten - ist jede Art sexueller Berührung untereinander durch den Therapeuten oder Patienten absolut und total verboten!

Es gibt einen guten Grund dafür. Der Therapeut ist derjenige, der während der Sitzung klaren Kopf und Kontrolle bewahren muss. Und keiner von uns ist in der Lage, vernünftig zu denken, wenn wir im Zustand sexueller Erregung sind. Wir haben ein wundervolles Afrikaans-Sprichwort, das sich so anhört: "Met die piel in die lug, is die verstand in die balle". (Steht der Penis in der Luft, befindet sich das Hirn in den Hoden). Dasselbe trifft für eine Frau zu. Saugen an der Brust, verursacht die Freisetzung des Hormons Oxytozin, das den Uterus kontrahiert, und es ist eines der Hormone bei sexueller Erregung. (Einige Frauen erfahren Orgasmen, während sie ihre Babys stillen). Es ist unmöglich, dass eine Therapeutin, die einem Patienten erlaubt, an ihren Brüsten zu saugen, weise und vernünftig handeln könnte.

Aber was soll der Therapeut tun, wenn der Patient nach sexueller Berührung verlangt? Wesentlich in der Therapie ist, dass der Therapeut derjenige ist, der angemessene Grenzen setzen muss. Menschen, die sich der Therapie unterziehen, regredieren häufig in kindliche Zustände, und Kinder wissen nicht immer, was angemessene Grenzen sind. In vielen Fällen sexuellen Missbrauchs hat ein kleines Kind einen Erwachsenen arglos um eine gewisse Art sexueller Berührung gebeten. Der Missbrauch geschieht, weil der Erwachsene, anstatt sanft und liebevoll angemessene Grenzen zu setzen, die Situation ausnutzt.

So kann der Therapeut dem Individuum helfen zu erlernen, was angemessene Grenzen sind, indem er die Bitte um sexuelle Berührung ablehnt. Andererseits ist ein Therapeut, der zustimmt aber sich dabei unwohl fühlt, emotional inkongruent. Der Patient wird das ‚mitkriegen' und bleibt emotional verwirrt zurück. Eine Bitte um sexuelle Berührung zu verweigern und dann emotionale Unterstützung anzubieten, hilft dem Patienten wahrscheinlich eher, das Kindheitstrauma wiederzuerleben, als dem Patienten zu erlauben es auszuagieren.


SCHLUSSFOLGERUNG - DER VERWUNDETE HEILER

Die Wahrheit ist, dass wir einen großen Teil unseres Lebens mit dem Streben nach zweierlei Dingen verbringen. Wir können unsere Zeit entweder mit dem offenen Kampf um Liebe und Aufmerksamkeit von Leuten in der Gegenwart verbringen, um zu kompensieren, was wir als Kinder nie bekamen. Oder wir können heimlich versuchen, Erfüllung für unsere unbefriedigten Bedürfnisse zu finden, indem wir symbolisch anderen das geben, was wir selber nie bekamen. Das trifft besonders auf Menschen in den Heilberufen zu.

Es gehört zum Allgemeinwissen, dass die meisten Menschen, die Psychotherapeuten, Sozialarbeiter oder Berater werden, dies tun, um unbewusst ihren eigenen Kindheitsschmerz handzuhaben und aufzulösen. Das trifft auch auf andere Heilberufe zu. (Ich verbrachte viele Jahre mit meiner Arbeit als Geburtserzieherin, die half sicher zu stellen, dass Babys die Art sanfter, liebevoller, nicht-gewaltsamer Geburt erhielten, die ich selbst niemals hatte). Daran ist nichts falsch, vorausgesetzt wir bleiben uns dessen bewusst, was wir tun; in der Tat können wir oft eine ganze Menge Gutes tun. Aber wir müssen genau wissen, wann wir ausagieren, denn wenn wir unbewusst agieren, dann werden wir zu einer Gefahr für die Menschen, denen wir zu helfen versuchen.

Es ist auch äußerst wichtig, dass Therapeuten ihre Patienten nicht dazu benutzen sollten, um ihre eigenen missachteten Bedürfnisse zu erfüllen, besonders solche, die mit Berührung zu tun haben (wie die Lady, die ihre Kleider auszog und ihre Patienten bat sie zu massieren, anstatt jemand anderen in ihrem Leben zu finden, der diesen Bedürfnissen nachkommt). Wenn Therapeuten versuchen, so zu handeln, muss man sie stoppen. Unglücklicherweise sind ihre Patienten oft verletzlich und nicht immer anspruchsvoll und klarsichtig genug, um es zu tun. Auch sollten Patienten nicht diejenigen sein, die im Umgang mit ihren Therapeuten angemessene Grenzen setzen müssen. Das Setzen von Grenzen in der Therapie liegt in der Verantwortlichkeit des Therapeuten.

Eine gute Methode, sich gegen auftauchende Probleme zu wappnen, ist für alle praktizierenden Therapeuten, selber in therapeutischer Behandlung zu sein, sodass sie sich fern von ihren Patienten mit ihren eigenen ungelösten Kindheitsproblemen befassen können. Jeder von uns schleppt in mehr oder weniger großem Ausmaß eine Last an Kindheitsschmerz und unerfüllten Bedürfnissen mit sich herum. Für Therapeuten bedeutet das nicht, dass sie nicht praktizieren sollten.

Wenn ein Therapeut selbst gelitten hat, kann ihn das sogar einfühlsamer und fähiger in seiner Arbeit machen. Das ist, was Jung als den "verwundeten Heiler" bezeichnete. Wichtig am verwundeten Heiler (ein Therapeut, der selbst gelitten hat) ist, dass er oder sie in ihrem eigenen Heilungsprozess weit genug fortgeschritten sein müssen, um ihren Patienten keinen Schaden zuzufügen, sondern ihnen helfen zu können, ebenfalls gesund zu werden.
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Übersetzung Ferdinand Wagner

EMaK www.emak.org ist eine Webseite für Erwachsene Misshandelt als Kinder. Über die Erfahrungen einer misshandelten Kindheit zu sprechen ist oftmals der erste Schritt auf einem langen Weg die unsichtbaren Wunden zu heilen.

-- Sieglinde W. Alexander



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