Im folgenden möchte ich einen
Überblick - eine grobe Skizze - über die Evolution von
Persönlichkeitsstrukturen und Überich geben, wie sie anhand der Untersuchung
der 20 historisch ältesten deutschen Autobiographien vom 13. bis 17.
Jahrhundert rekonstruiert werden kann. Diese Autobiographien wurden andernorts
innerhalb von zwei detaillierten Untersuchungen zur Rekonstruktion der
Eltern-Kind-Beziehungen verwendet.[1]
Im vorliegenden Artikel liegt der Schwerpunkt etwas anders: Es sollen die
Persönlichkeitsstrukturen der Autoren, insbesondere unter dem Aspekt des Überich,
rekonstruiert werden. Hierzu werden allerdings nur n=6 Autobiographen des
obengenannten Samples exemplarisch untersucht, die am Ende des Artikels in drei
verschiedene Persönlichkeits-Kategorien eingeteilt werden. Es handelt sich
hierbei um die Borderline-, die narzißtische und die neurotische
Persönlichkeit.
Die ersten deutschsprachigen Autobiographien
finden sich im Umfeld der Erlebnismystik.[2]
Der Mystiker Heinrich Seuse (geb. um 1295) gilt gewöhnlich als der Verfasser
der ersten deutschsprachigen Autobiographie, aber bereits vor Seuse haben
einige Mystiker Autobiographien hinterlassen bzw. in ihre religiösen Schriften
autobiographische Passagen eingeflochten.[3]
Nach den Autobiographien aus dem mystischen Umfeld folgte - historisch gesehen
- im 15. Jahrhundert die Entwicklung der säkularen deutschen Autobiographie.
Burkard Zinks Lebensbeschreibung, die Teil einer größeren Chronik ist, gilt als
erste moderne deutsche Autobiographie und enthält eine Darstellung seiner
Kindheit und Jugend, der Lehrjahre und der Gründung einer eigenen Familie.[4]
Der vorliegende Artikel basiert auf der psychohistorischen
Annahme, daß die Geschichte der Kindheit als Geschichte des Wandels der
Eltern-Kind-Beziehungen zu betrachten ist. Demnach bringt ein derartig
gedachter Wandel ständig historisch neue Persönlichkeiten mit neuen
Überich-Konfigurationen hervor, die historisch neue Beziehungsformen, neue
Traumata und neue psychische Verarbeitungsmechanismen entwickeln. Diese
theoretischen Annahmen sollen einer empirischen Prüfung zugeführt werden.
Die hier auszuführende empirische Skizze umfaßt
folgende Schritte: Zunächst wird das Konzept des Überich grob dargestellt und
sein Zusammenhang mit Persönlichkeitsstrukturen und internalisierten
Objektbeziehungen herausgestellt. In Anlehnung an Kernberg werden dann die drei
genannten Persönlichkeitstypen prototypisch skizziert. Jede der drei
Persönlichkeitstypen wird durch historische Vertreter aus dem Sample der
Autobiographen kurz illustriert. Dabei werden die drei Persönlichkeitststrukturen
in einer ordinalen Reihe geordnet hinsichtlich des Grades psychischer Integration. Das bedeutet, daß die am wenigsten
integrierten Persönlichkeitsstrukturen bei den Borderline-Persönlichkeiten zu
finden sind, die narzißtischen Persönlichkeiten demgegenüber integrierter sind
und die Neurotiker den höchsten Grad an psychischer Integration aufweisen.
Letztere zeigen also die reifsten Abwehrmechanismen, den höchsten Grad an
Empathie und Einfühlungsfähigkeit und die reifsten zwischenmenschlichen
Beziehungen.
Abschließend werden alle
n=20 Autobiographen (aus Raumgründen ohne weitere Argumentation) in das
Ordnungsschema eingeteilt. Dabei wird der historische Wandel der
Persönlichkeitsstrukturen aufgezeigt.
Freud führte das Konzept des Überich 1923 in seinem Aufsatz Das Ich und das Es ein. Er faßte das Überich
als denjenigen Teil des Ich auf, der als kritische Instanz Handlungen, Gefühle,
Phantasien und Gedanken des Subjekts beurteilt und bewertet. Das Überich
entsteht demnach als eine Verinnerlichung elterlicher Gebote und Verbote. Die
dabei ablaufenden Repräsentationsvorgänge - die Verwandlung von erlebten
Objektbeziehungen in eine komplexe innere Instanz - hängen nach Freud mit dem
Untergang des Ödipuskomplexes in seiner positiven und negativen Form zusammen.[5]
Freud faßte dabei Überich und Ichideal noch weitgehend synonym. Gewöhnlich
bezeichnet man heute mit „Überich“ die verbietende innere Instanz, während das
Ichideal als Instanz gefaßt wird, die für das Subjekt eine Vorbildfunktion hat.[6]
Waren Freuds Überlegungen zur Genese des Überich noch
primär triebtheoretisch bestimmt, wurde in späteren Theoriebildungen anderer
Psychoanalytiker der Aspekt der Objektbeziehungen immer stärker betont. Unter
„Objektbeziehung“ wird dabei eine spezifisch getönte affektive Beziehung
zwischen einer bestimmten Objekt-Imago mit einer entsprechenden Selbst-Imago
verstanden.[7]
Eine frühe Objektbeziehungstheoretikerin war Melanie Klein. Sie geht davon aus,
daß die Überich-Bildung erheblich früher beginnt, als Freud annahm, wobei sie
zudem Frühstadien des Ödipuskomplexes bereits im ersten Lebensjahr postuliert.
Frühe Objektbeziehungen, die von primitiven Angstformen bestimmt sind, bilden
demnach die Grundlage für die Introjektion früher Überich-Aspekte. Klein
beschreibt etwa, daß einjährige Kinder Angst davor haben, aufgefressen zu
werden. Sie erklärt diese spezifische Bildung mit der Introjektion früher Angstobjekte („böser Objekte“), was einen
primitiven beißenden (auch fressenden oder schneidenden) Überich-Vorläufer zur
Folge hat, der sich zum Überich weiterentwickelt.[8]
Ebenso werden frühe „gute Objekte“ introjiziert. „Gute“ und „böse“ Objekte
werden durch Spaltungsvorgänge infolge der Unreife der kindlichen Psyche
voneinander streng getrennt repräsentiert. Dieser frühe Abwehrvorgang soll das
Ich schützen, führt aber gleichzeitig zu einer „phantastischen“ Übertreibung
der affektiven Qualität der Objektbeziehung, sei sie ausgerichtet auf das gute
oder das böse Objekt.[9]
Kernberg entwickelte ausgehend von Melanie Kleins
Annahmen systematische Theorien zur Entwicklung von Persönlichkeitsorganisationen
(z. T. einschließlich zugehöriger Überich-Formationen) unter Berücksichtigung
der internalisierten Objektbeziehungen und ihrer Pathologien.[10]
Die Charakteristika der jeweiligen Persönlichkeitsstrukturen werden dabei mit
der Internalisierung spezifischer Objektbeziehungen in Verbindung gebracht.
Nach Kernberg ist der Zusammenhang von Überich und Persönlichkeit (bzw.
Persönlichkeitsstörung) komplex.[11]
Die jeweilige Persönlichkeitsstruktur und der Grad der Integration von
Überich-Strukturen ist demnach nicht unmittelbar funktional miteinander
verknüpft. Das bedeutet, daß etwa beim Vergleich der eigentlich schwerer
gestörten Borderline-Persönlichkeit mit der narzißtischen Persönlichkeit
letztere in einigen Fällen die gravierendere Überich-Pathologie aufweisen kann.
Gleichwohl formuliert Kernberg aber auch immer wieder, daß das
Borderline-Syndrom verbunden ist mit dem Vorliegen primitiver „Überich-Vorläufer
sadistischer Art“, die dazu führen, daß das Subjekt massive Projektionen auf
äußere Objekte richtet und somit eine Welt voller „böser“ Objekte erlebt.[12]
Kernberg geht somit davon aus, daß dieser Persönlichkeitstypus regelmäßig
Überich-Störungen aufweist.
Nach diesen klinischen Ausführungen, die sozusagen einen argumentativen
Hintergrund liefern, soll im weiteren eine grobe theoretische Skizze erstellt
werden, die es erlaubt, das vorhandene historische autobiographische Material
in bezug auf die zugrundeliegenden Persönlichkeitsstrukturen einzuteilen.
Hierzu werden drei Persönlichkeitsstrukturen im Sinne von Prototypen
unterschieden. Dabei soll insbesondere die Qualität des Überichs erfaßt werden.
Grundlegend ist dabei die Überlegung, daß Persönlichkeitsstrukturen auf
internalisierten Objektbeziehungen ruhen, deren affektive Qualität maßgeblich
davon beeinflußt wird, welche Realerfahrungen das Kind mit seinen Eltern macht.
Ein historisch sich wandelnder Umgang mit dem Kind führt demnach dazu, daß
Objekt-Imagines, Selbst-Imagines und die jeweils zugehörigen affektiven
Tönungen sich historisch wandeln. Das bedeutet gleichermaßen, daß sich im historischen
Verlauf die Persönlichkeitsstrukturen verändern. Das Überich als abstraktere
bzw. übergeordnete Instanz innerhalb des psychischen Apparates muß einem
solchen Wandel der Objektbeziehungen, sollte er sich denn nachweisen lassen,
ebenfalls unterworfen sein.
Ich gehe in loser Anlehnung an Kernberg von drei
unterscheidbaren Persönlichkeitsstrukturen aus: der Borderline-Persönlichkeit,
der narzißtischen Persönlichkeit und der neurotischen Persönlichkeit. Das
historische Material Autobiographien wird dabei daraufhin untersucht, inwiefern
sich der jeweilige Autor als Vertreter einer dieser Persönlichkeitstypen
verstehen läßt.
Da ein Schwerpunkt der vorliegenden Untersuchung auf
der Rekonstruktion des Überich liegt, werden im empirisch-historischen Material
insbesondere solche Szenen aufgesucht, die die Beschaffenheit dieser
psychischen Instanz erkennen lassen. Von Interesse sind vor allem Szenen, die
den Umgang des jeweiligen Autors mit folgenden Bereichen zeigen:
- lustvolle Ereignisse (Sexualität, Sicherheit, Befriedigung anderer
Bedürfnisse)
- Aggressionen
- Selbst und eigener Körper
- Schuld und Scham
- Kindheitstraumata (berichtete oder auch rekonstruierte)
Die meisten der deutschen Erlebnismystiker weisen
Persönlichkeitsmerkmale auf, die heute als der Borderline-Persönlichkeit
zugehörig anzusehen wären. Im folgenden wird das Borderline-Syndrom als
Prototyp dargestellt.[14]
Das Borderline-Syndrom wird als eine schwere Persönlichkeitsstörung auf der Grenze
zwischen Neurose und Psychose aufgefaßt. Die entsprechende Psychodynamik ist
von Dissoziationen gekennzeichnet, die das Erleben und das Verhalten maßgeblich
beeinflussen. Auf einer deskriptiven
Ebene sind Borderline-Persönlichkeiten durch folgende Merkmale zu
charakterisieren: (a) chronische, frei flottierende Angst; (b) polysymptomatische
Neurosen (Phobien, Zwangssymptome, multiple Konversionssymptome, dissoziative
Reaktionen wie Dämmerzustände, Derealisation und Depersonalisation, Amnesien
und Bewußtseinsstörungen, Hypochondrie, paranoides Erleben); (c)
polymorph-perverse Sexualität; (d) Impulsneurosen mit Triebdurchbrüchen,
einschließlich autoaggressivem Agieren; (e) Vorliegen intensiver Affekte (Wut
und Depression) bei weitgehender Genußunfähigkeit (Anhedonie).[15]
Hinzu kommen charakteristische Denkstörungen (formal und inhaltlich) sowie das
Vorkommen von „Mini-Psychosen“.[16]
Die genannten Merkmale müssen nicht dauernd vorliegen, sondern können
fluktuieren. Wichtig ist außerdem, daß Borderline-Persönlichkeiten im
Unterschied zu Psychotikern eine weitgehend erhaltene Fähigkeit zur Realitätsprüfung
aufweisen.[17]
Auf einer strukturellen
Ebene betont Kernberg unspezifische Anzeichen von sogenannter Ich-Schwäche,
einen erleichterten Zugang zu primärprozeßhaftem Denken sowie spezifische
Abwehrmechanismen, wobei er als wichtigsten Abwehrmechanismus die Spaltung
hervorhebt.[18]
Auf den Aspekt der Spaltung möchte ich kurz näher eingehen. Spaltung wird nach
Kernberg von Borderline-Persönlichkeiten als aktiver Abwehrmechanismus
eingesetzt und dient der Vermeidung der Bewußtwerdung bestimmter
Vorstellungsrepräsentanzen, die intensiv mit Aggressionen kontaminiert sind.
Die normale Entwicklung der Objektbeziehungen im Baby-Alter besteht in einer
Integration der guten und bösen Imagines, wobei paranoid getönte Ängste durch
reifere, depressiv getönte Formen ersetzt werden und allgemein ein
realistischeres Bild der Objekt-Imagines entsteht. Aufgrund dieser Integration
erlebt das Baby nun gleichzeitig aggressive und libidinöse Aspekte an einem
einzigen Objekt. Das bedeutet, daß vor dieser Integration präambivalente
Objekte erlebt werden und erst danach ambivalente. Die für das Erleben von
Ambivalenz notwendige Legierung widersprüchlicher Erlebnisformen wird von
späteren Borderline-Persönlichkeiten in der Kindheit und auch im
Erwachsenenalter nicht geleistet. Statt dessen setzt das Kind aktiv die
Spaltung ein und bringt unter Einsatz der sogenannten „primitiven
Idealisierung“ die „total guten“ und „total bösen“ Objekt-Imagines hervor.[19]
Die primitive Idealisierung stellt eine Phantasiestruktur dar, bei der einem
Objekt magisch überhöhte Eigenschaften zugesprochen werden, wobei gleichzeitig
Allmachtsphantasien operieren. Die primitiv idealisierten Objekte dienen zum
Schutz gegen Aggressionen. Man kann diese Konfiguration als Vorläufer reiferer
Idealisierungsformen ansehen, deren Ausbildung bei Borderline-Persönlichkeiten
in der Kindheit nicht oder nur unzureichend erfolgt.
Innerhalb der Analyse von Objektbeziehungen spielen
auch die emotionalen Qualitäten von Selbst-Imagines eine zentrale Rolle. Eine
Objektbeziehung wird, wie bereits gesagt, als spezifisch getönte affektive
Beziehung zwischen einer bestimmten Objekt-Imago mit einer entsprechenden
Selbst-Imago aufgefaßt.[20]
Auch die Entwicklung der Selbst-Imagines ist bei Borderline-Persönlichkeiten
gestört; sie bleiben ebenfalls gespalten und unintegriert. Es bilden sich
„total gute“ und „total böse“ Selbst-Imagines, wobei die überidealisierten
Selbst-Imagines mit phantastischen Idealen von Macht und Vollkommenheit
verknüpft sind. Diese pathologischen Idealselbst-Bildungen behindern die
Entwicklung eines reifen Überichs. Es bleibt unreif und enthält sadistische und
bedrohliche Überich-Vorläufer.
Die zentrale intrapsychische Bedingung für die Spaltungsprozesse
stellt eine enorm gesteigerte Aggression dar. Die Objektbeziehungen von
Borderline-Persönlichkeiten sind von Haß geprägt. Haß stellt die Umkehrung des
Leidens dar.[21]
Kaum kontrollierbare Aggression ist auch Ursache der Selbstbeschädigung, die
typisch für die Borderline-Persönlichkeit ist.[22]
Während Allmachtsphantasien und primitiv idealisierte
Objekt-Imagines bei der Borderline-Persönlichkeit ausgearbeitet werden, kommt
es gleichzeitig zur Entwertung
äußerer Objekte. Diese Entwertung erfolgt teilweise aufgrund der (phantasierten)
Unfähigkeit realer Objekte zum Schutz gegen allmächtige „total böse“ Objekte,
teilweise zur Verhinderung der Entwicklung dieser Objekte zu Verfolgern und
teilweise aufgrund von Rachephantasien, weil das reale Objekt bestimmte Bedürfnisse
nicht befriedigen kann. Borderline-Persönlichkeiten weisen zudem die Tendenz
auf, ein äußeres Objekte abrupt von einer Bewertungskategorie in die andere zu
verschieben, beispielsweise aufgrund einer minimalen Kränkung ein primitiv idealisiertes
Objekt stark abzuwerten und zu attackieren (Schwarz-Weiß-Denken).[23]
Damit hängen auch die kippenden Selbst- und Objektbeurteilungen zusammen, die
ständiger Fluktuation unterliegen können. Ohnehin befindet sich das Erscheinungsbild
des Borderline-Syndroms häufig in permanenter Veränderung. Gleichwohl bleiben
die operierenden Spaltungsprozesse erkennbar. Kernberg faßt seine strukturellen
Ausführungen zusammen:
„Infolge der ständigen Projektion »total
böser« Selbst- und Objekt-Imagines sehen sich diese Patienten einer Welt voller
gefährlicher, ja bedrohlicher Objekte gegenüber, gegen die »total gute«
Selbst-Imagines als Abwehr eingesetzt und grandiose Idealselbst-Imagines
aufgebaut werden.“[24]
Kernberg nannte bereits 1975 als eine der ätiologischen Bedingungen für
die Entwicklung des Borderline-Syndroms neben konstitutionellen Besonderheiten
das reale Erlebnis von schwerwiegenden Frustrationen, also traumatische Bedingungen.[25]
Mittlerweile spricht er von „Fixierungen an das Trauma“ in bezug auf die Entwicklung
pathologischer Objektbeziehungen und deren Repräsentanzen.[26]
Rohde-Dachser nennt als eine wesentliche ätiologische Bedingung für die
Entwicklung des Borderline-Syndroms den sexuellen Mißbrauch in der frühen
Kindheit.[27]
Diese ätiologische Bedingung und ihre Thematisierung spielt auch eine
herausragende Rolle in den unbewußten Phantasien, die den erlebnismystischen
Texten zugrunde liegen.
Heinrich Seuse (1295-1366)
Die Geschichte deutscher Autobiographien beginnt mit Texten der
Erlebnismystikerinnen und -mystiker.[28]
Darin stellen Mystiker ihr Erleben dar, schreiben über ihre Kindheit oder die
Kindheit Jesu und ihren Umgang mit ihrem Körper. Man findet in diesen Texten
die Darstellungen gravierender Störungen der Objektbeziehungen und der
Persönlichkeitsentwicklung. Mystiker liefern zahllose Hinweise auf gravierendste
Kindheitstraumen und zeigen ein archaisches, unintegriertes und exzessiv grausames
Überich. Das Erleben von Erlebnismystikerinnen und -mystikern ist typischerweise
durch folgende Erlebnisformen gekennzeichnet:
(1.) exzessive, selbst
ausgeführte Beschädigung des eigenen Körpers;
(2.) halluzinatives Erleben
religiös gedeuteter Objekte (Gott, Jesus, Maria, Jesuskinder, Teufel, Dämonen,
Verstorbene);
(3.) andauernde Beschäftigung
mit einem religiösen Phantasiesystem;
(4.) prekäre erwachsene
Sexualität bei gleichzeitigem Vorliegen pädophiler Phantasien, die im
Zusammenhang mit einem Jesuskind-Phantasma erlebt werden.
Fast alle Mystiker betrieben exzessive Selbstbeschädigung. Dazu
gehörten Selbstgeißelungen, exzessives Fasten und Venien (Kniefälle). Diese
Formen der Askese führten praktisch alle Mystiker aus. Hinzu kamen weitere
teilweise idiosynkratische Formen wie Einschneiden von religiösen Symbolen in
die Haut, Selbstverbrennungen, Selbstfesselungen, selbst beigebrachte Bisse
sowie weitere Formen.
Heinrich Seuse war ein literarisch sehr bedeutender Erlebnismystiker.
Er gehörte zu den aggressivsten Selbstbeschädigern und peinigte sich nach
eigenen Angaben 20 Jahre lang. Seuse beschreibt detailliert
Selbstbeschädigungen, Selbstgeißelungen und andere religiös motivierte
Praktiken, wie etwa das Tragen von Nagelkreuzen und Nagelketten auf der Haut,
Aderlaß, Selbstfesselung vor dem Schlafen mit einem System von Gürteln, Riemen
und Schlössern.[29]
Er aß und trank zeitweise gerade so viel, wie zum Überleben ausreichte, d. h.
er wies anorektische Symptome auf.[30]
Seuse hatte starke Stimmungsschwankungen. Vor einem
Akt der Selbstdestruktion wurde, wie er formuliert, „unmäßiges Feuer in seine Seele gesandt, das sein Herz in göttlicher
Liebe gar inbrünstig entflammte.“[31]
Deshalb ging er in seine Zelle und wendete sich an Gott:
„»Ach, zarter
Gott, könnte ich mir doch irgendein Liebeszeichen erdenken, das ein ewiges
Liebeszeichen zwischen dir und mir wäre, eine Urkunde, daß ich dein und du
meines Herzens ewige Liebe bist, ein Zeichen, das kein Vergessen je vertilgen
könnte.« In diesem inbrünstigen Ernst warf er vorn sein Skapulier [=
Schulterkleid] auf und entblößte seinen Busen und nahm einen Griffel in die
Hand und sah sein Herz an und sprach: »Ach, gewaltiger Gott, nun gib mir heute
Kraft und Macht, mein Begehren zu vollbringen, denn du mußt heute in den Grund
meines Herzens geschmelzt werden.« Und fing an und stach mit dem Griffel in das
Fleisch an der Stelle über dem Herzen, und stach also hin und her und auf und
ab, bis er den Namen IHS genau auf sein Herz gezeichnet hatte. Von den scharfen
Stichen strömte das Blut stark aus dem Fleisch und rann über den Leib herab in
den Busen. Das war ihm in seiner feurigen Liebe ein so lieblicher Anblick, daß
er der Schmerzen nicht viel achtete.“[32]
Das in religiöses Vokabular eingekleidete Geschehen kann verstanden
werden als Wiederbelebung eines frühen Deprivationszustands, der mit
gesteigerter Empfindung von Wünschen und Sehnsüchten einhergeht. Die Sehnsucht
nach dem geliebten Objekt, hier als Gott bezeichnet, kann als Reminiszenz an
die frühe Mutter aufgefaßt werden. Seuse will gegenseitige Liebe herstellen. Er
beschreibt sich selbst als eine Mutter (Schulterkleid zur Seite schieben, die
Brust frei machen, auf die eigene Brust blicken). Das Körperselbst wird
abgespalten, als fremd erlebt und besetzt. Der Körper bzw. Körperteile
fungieren als Übergangsobjekte im Sinne Winnicotts.[33]
Gleichzeitig werden phantasierte Objekte in halluzinativer Weise erlebt. Durch
die Verletzungen, die er sich mit dem Griffel zufügt, erzeugt Seuse bei sich
selbst eine blutende „mütterliche“ Brust, wobei das Blut die Milch
symbolisiert.[34]
Liebende und extrem aggressive Impulse werden gleichzeitig aktiviert und
ausagiert und verweisen auf eine extreme emotionale Ambivalenz gegenüber dem
primären Objekt.
Die beiden Erlebnisaspekte selbst zugefügte
Schmerzen und fließendes Blut werden von Hirsch als eine regredierte
Auseinandersetzung des Selbstbeschädigers mit Problemen der Empfindung der
eigenen Körpergrenzen verstanden.[35]
Hirsch nennt als ätiologisch entscheidende Bedingungen für die Genese einer
selbstdestruktiven Symptomatik zwei Formen von Ereignissen in der Kindheit
seiner Patienten: frühe Deprivation und traumatische Überstimulation,
gewöhnlich in Form schwerwiegenden physischen und sexuellen Mißbrauchs.[36]
Hirsch vermutet, daß der Teil des Körpers, der das Ziel autoaggressiven
Verhaltens wird, ein schlechtes Objekt repräsentiert. Seuse beschädigt verschiedene
Körperteile und -regionen, vor allem die Brust und den Rücken (bei
Selbstgeißelungen). Ziel dieser Selbstbeschädigung ist eine Reduktion
unerträglicher innerer Spannungen.
Der pathologische Umgang mit dem eigenen Körper als
einem mütterlichen Übergangsobjekt basiert nach Hirsch auf der Spaltung
zwischen Selbst und Körper-Selbst. Diese Spaltung rührt von den erwähnten
traumatischen Kindheitserfahrungen her. Die Erfahrungen wurden so verarbeitet,
daß das Körper-Selbst vom übrigen Selbst dissoziiert
wurde, um die Konsistenz dieses Rests zu ermöglichen und vor weiterer
Dissoziation zu bewahren. Der Erwachsene, der selbstdestruktives Verhalten
ausführt, agiert Elemente der frühen traumatischen Mutter-Kind-Beziehung aus.
Folgende Szene soll Seuses archaisches Überich und den
Umgang mit Bedürfnissen illustrieren: Seuse halluzinierte einmal Tag und Nacht
Geister.[37]
In dieser Zeit hatte er außerdem das Bedürfnis, Fleisch zu essen, nachdem er
das jahrelang nicht mehr getan hatte. Er nahm Fleisch in den Mund und hatte
sofort eine Halluzination: Vor ihm stand eine „ungeheure höllische Person“, die zu den halluzinierten Umherstehenden
sagte: „Dieser Mönch hat einen Tod
verschuldet und den will ich ihm antun!“[38]
Die Umherstehenden ließen nicht zu, daß die ungeheure Person Seuse tötete.
Seuse beschreibt die Konfrontation mit dieser Person folgendermaßen:
„Da sie [die Umherstehenden] ihr das nicht
gestatten wollten, zog sie einen greulichen Bohrer heraus und sprach zu ihm:
»Da ich dir nun anders nichts tun kann, so will ich deinen Leib doch mit diesem
Bohrer peinigen und zum Munde einbohren, daß dir so weh geschehen soll, so groß
deine Lust nach dem Fleischessen gewesen ist« und fuhr ihm dabei mit dem Bohrer
nach dem Munde. Alsbald schwollen ihm die Kinnbacken und die Zähne und verschwoll
ihm der Mund, daß er ihn nicht auftun und wohl drei Tage weder Fleisch noch
andere Dinge essen konnte als nur soviel er durch die Zähne saugen konnte.“[39]
Wie bereits gesagt, stellt Hirsch zwei wesentliche Faktoren bei der
Entwicklung selbstbeschädigenden Verhaltens heraus: frühe Deprivation und
schweren körperlichen, meist sexuellen Mißbrauch. Die hier beschriebene Szene
hat die Form eines sexuellen Mißbrauchs und gibt Anlaß zu der Vermutung, daß
Seuse als Kind eine orale Vergewaltigung - vermutlich durch seinen Vater -
erlebt hat, die er halluzinativ reinszenierte. Die Implikationen der Annahme
eines derartigen frühen Traumas werden im weiteren herausgearbeitet.
Die „ungeheure höllische Person“ ist
körperlich groß und aggressiv. Sie erscheint in dem Moment, als Seuse ein
Lusterlebnis hat. Seuse hatte enorme Probleme mit Lusterlebnissen jeder Art.
Hinzu kommt, daß Fleischessen mit der Tötung eines Lebewesens zu tun hat.
Sowohl Seuses Lusterlebnis als auch dieses Wissen um den Tod eines Tieres
stimulieren das Erscheinen, das Halluzinieren der ungeheuren höllischen Person.
Nachdem die Tötung Seuses durch die
Umherstehenden - Externalisierungen gemäßigter, emotional zugewandter
Persönlichkeitsanteile - verhindert wird, zieht die höllische Person einen
Bohrer hervor. Der Bohrer symbolisiert den väterlichen Penis. Ein im engeren
Sinne orales Bedürfnis wird hierbei auch an dem damit verbundenen Körperteil,
dem Mund, bestraft. Dabei soll der Schmerz proportional der zuvor erlebten Lust
sein. Seuse stellt sich in dieser Szene als jemand dar, der zumindest bis zu
einem gewissen Grad die anschließende Peinigung in Form einer oralen
Vergewaltigung verdient hat. Er war
zum einen schuld am Tod eines Tieres, und er hatte zum anderen verpönte
Lusterlebnisse.[40]
Lust kann Seuse nur unter bestimmten Bedingungen ertragen, andernfalls wird
seine empfindliche narzißtische Homöostase stark gestört. Seuse zeichnet
gleichzeitig ein überaus ambivalentes Bild gegenüber oralen
Befriedigungserlebnissen. Während die versorgenden Erlebnisse (mit der Mutter)
als prototypische Befriedigungen reinszeniert werden,[41]
führt die vermutete sexuelle Gewalterfahrung zu einer prototypischen Gewalt-
und Kontrollverlusterfahrung und zu deren Reinszenierung. Die Szene
illustriert, wie massiv die Welt Seuses von sadistischen Überich-Vorläufern
geprägt ist. Ein Lusterlebnis stimuliert eine archaische Rächerfigur, der Seuse
sich hilflos ausgeliefert fühlt.
Andere Mystiker zeigen ganz ähnliche
Überich-Konfigurationen. Mechthild von
Hackeborn (1241-1299) hörte einmal leichtfertige Lieder und weltliche Gesänge.[42]
Daraufhin sei sie in Gottesliebe entflammt und habe Gott einen Ersatz bieten
wollen für das Ärgernis dieser Lieder. Sie legte daher Glasscherben in ihr Bett
und wälzte sich so lange darin, bis sie ihre Haut zerschunden hatte und vor
Schmerzen fast bewegungsunfähig war. Auch hier zeigt sich, analog zu Seuses
Erlebnis der „ungeheuren höllischen Person“, ein extrem prekärer Umgang mit
Lust. Ein Es-Wunsch wird als äußerst gefährlich erlebt und aktiviert qua
Überich einen Gegen-Impuls. Dem Überich wird eine Szene vorgeführt, wobei das
abgespaltene Körper-Selbst leiden muß, um das grausame Überich zu versöhnen.
Derartige Inszenierungen waren in Klöstern weit
verbreitet. Mechthild von Hackeborn preist beispielsweise den Schall der
Selbstgeißelungen, der einen „gar süßen
Ton“ habe. Sie schreibt: „Bei dem
Laute dieses Schalls jubelten die Engel Beifall, die Dämonen, welche die Seele
peinigten, entflohen weithin, die Seelen wurden von ihren Strafen erlöst, und
die Ketten der Schuld gebrochen.“ [43] Die
Versöhnung des Überich durch Selbstbestrafung ist zentral.
Eine selbst unter Mystikern brutale Attacke auf ihren
Körper führte Christina von Retters
(1269-1292) aus. Sie fühlte sich von ihrer „Unkeuschheit“ bedrängt, die ihre
seelische und körperliche Reinheit gefährdete. Der Teufel bescherte ihr im
Schlaf „böse Träume, böse Wollust und
Versuchungen“. Christina stand daher ein Jahr lang jede Nacht auf und
schlug sich mit einem Besen.[44]
Um das „Feuer der Versuchung“ zu löschen, brannte sie sich die Vagina mehrfach
mit Feuer aus. Eine der Selbstbeschädigungen führte sie aus, als sie einen Mann
mit einer Frau sprechen hörte über „fleischliche
und weltliche Dinge“ - also über
Sexualität. Man sieht hier fast die
gleiche Auslösungssituation wie bei Mechthild von Hackeborn. Derartige
Beispiele sind in erlebnismystischen Texten Legion.
Der erste Typ von Überich, der uns anhand von
historischen Selbstzeugnissen gegenübertritt ist eine archaische Konfiguration,
wie sie heute bei der Borderline-Persönlichkeit vorzufinden ist.
Ähnlich wie der Begriff „Borderline-Persönlichkeit“ eine lange
Geschichte aufweist, eine große Mannigfaltigkeit klinischer Erscheinungsbilder
beschreibt und dabei stellenweise nicht ganz eindeutig ist, gilt auch für die
Kategorie „narzißtische Persönlichkeit“, daß sie vielfältige Bilder bezeichnet.[45]
Bursten führt aus, daß es „ganz
verschiedene narzißtische Persönlichkeiten“ gibt.[46]
Entsprechend bezeichnet dieser Terminus in der Literatur Persönlichkeiten mit
stark verschiedenen Integrationsgraden (oder „Störungsgraden“). Ganz generell
ist vorausszuschicken, daß im weiteren unter der „narzißtischen Persönlichkeit“
eine Struktur verstanden wird, die einen höheren psychischen Integrationsgrad
als die Borderline-Persönlichkeit aufweist. Somit wird innerhalb des
vorliegenden Artikels eine eingeschränkte Bedeutung der Kategorie verwendet.
Die schärfer umrissenene Bedeutung ergibt sich aus der folgenden Beschreibung
in Kombination mit den zugehörigen historischen Beispielen. Erneut wird hierbei
eine lose Anlehnung an Kernbergs Arbeiten gesucht.
Narzißtische Persönlichkeiten imponieren durch eine
charakteristische Störung ihres Selbstwertgefühls. Sie zeigen ein stark
gesteigertes Maß an Selbstbezogenheit, wollen von anderen geliebt und bewundert
werden, wobei das Bedürfnis nach Bestätigung maßlos wirkt. Gleichzeitig zeigen
sie eine gering entwickelte Fähigkeit zu Einfühlung und eine gesteigerte
Beschäftigung mit grandiosen Phantasien. Sie wirken oft rastlos und werden
schnell gelangweilt, wenn sich äußere narzißtische Zufuhr verringert.
Im Umgang mit anderen spielt bei Narzißten Neid und
Verachtung eine wichtige Rolle. Menschen werden von ihnen häufig danach
beurteilt, welchen Nutzen sie jeweils erwarten lassen. Frühere Idole können
nach Enttäuschungen - wirklichen oder phantasierten - extrem entwertet werden.
Kernberg beschreibt diese Individuen als weitgehend unfähig zu tiefen Gefühlen
und echter Zuneigung für andere. Insbesondere könnten sie das Gefühl der
Abhängigkeit einem anderen gegenüber nicht entwickeln, da Narzißten zutiefst
mißtrauisch sind.[47]
Nach Kernberg ähneln sich die Abwehrorganisationen von
Borderline-Persönlichkeiten und narzißtischen Persönlichkeiten.[48]
Es überwiegen bei beiden die sogenannten „primitiven Abwehrmechanismen“ wie
Spaltung, Verleugnung, Allmachtsphantasien, primitive Idealisierung und
Entwertung. Anders als typische Borderline-Persönlichkeiten verfügen
narzißtische jedoch über eine relativ gute soziale Anpassung, eine gut
funktionierende Impulskontrolle und bessere Sublimierungsfähigkeiten.
Narzißtische Persönlichkeiten verfügen im Unterschied zu Borderline-Persönlichkeiten
über ein integrierteres Selbst, wenngleich dieses Selbst pathologische Züge
aufweist.[49]
Kernberg beschreibt diesen pathologischen Anteil in Anlehnung an Kohut als
„grandioses Selbst“, eine Bildung, die die narzißtische Persönlichkeit dazu
bringt, Abhängigkeit von anderen extrem zu fürchten und daher zu vermeiden. Die
Integration des Überich bei narzißtischen Persönlichkeiten ist unzureichend.[50]
Auch ihr Überich enthält Überich-Vorläufer, insbesondere wohl überidealisierte.[51]
Neben den genannten Unterschieden in der
Phänomenologie und den zugrundeliegenden psychischen Strukturen zwischen
Borderline- und narzißtischen Persönlichkeiten soll an dieser Stelle
festgehalten werden, daß eindeutige und deutlich zutage tretende Episoden von
Selbstdestruktivität und körperlicher Selbstverletzung im vorliegenden Artikel
zur Zuweisung eines historischen Autobiographen zur Borderline-Persönlichkeitsstruktur
führen. Trotz der Unterscheidbarkeit beider Persönlichkeitsstrukturen ist
allerdings auch zu betonen, daß es Individuen gibt, die beiden Kategorien
zugewiesen werden können und daß es Übergänge zwischen beiden gibt.
Johann von Soest (1448-1506)
Nach den erlebnismystischen Autobiographien entstanden ab dem 15.
Jahrhundert die ersten deutschen säkularen Autobiographien. Die frühesten
säkularen Autobiographen erlebten ausnahmslos alle als Kind langdauernde
Trennungen von ihren Eltern, gewöhnlich aufgrund einer elterlichen Weggabe.[52]
Eine geradezu typische narzißtische Persönlichkeit einschließlich des
zugehörigen Überich wies Johann von Soest auf. Soest war ein mit diversen
Begabungen ausgestatteter Mensch. Er war bereits als Kind professioneller
Sänger und wurde später ein bedeutender Komponist. Er war außerdem
Schriftsteller und Arzt.
Als Baby wurde Soest - vermutlich von seiner
Mutter - im Gesicht mit heißem Öl überschüttet.[53]
Die anscheinend bleibende Entstellung des Gesichts mit Verlust der Sehkraft
eines Auges hat vermutlich eine ausgeprägte psychische Traumatisierung für das
Kind nach sich gezogen, zumal Soest als künstlerisch interessierter Mensch
ohnehin verstärkt ästhetische Aspekte sehr ernst nimmt. Eine bleibende
Entstellung des Gesichts, einschließlich eines blinden Auges, stellt eine
massive narzißtische Kränkung dar. Sie hat womöglich die
Persönlichkeitsentwicklung stark beeinflußt. Zudem mag der spätere Arztberuf
mit dem Trauma in Verbindung stehen.
Zumindest einer seiner beiden jüngeren Brüder
wurde weggegeben.[54]
Sein Vater starb, als Soest drei Jahre alt war. Der Herausgeber macht darauf
aufmerksam, daß Soest sechs Zeilen gestrichen hat.[55]
Darin erwähnte Soest, daß die Mutter wieder heiratete. Die Darstellung der
Abläufe wurde also stark verändert: Der Stiefvater wurde mit keinem Wort
erwähnt, außer in den gestrichenen Zeilen. Das bedeutet, daß Soest in seiner
Autobiographie eine tatsächlich vorliegende Triade immer nur als Dyade beschrieb.
Es drängt sich auf, daß Soest hier phantasmatisch die narzißtische Kränkung der
Wiederverheiratung der Mutter leugnet.
Soest wies eine Form von Bindungslosigkeit auf, die
bereits in seiner Kindheit nachzuweisen ist. Schon als 9jähriger versuchte er,
von zu Hause bzw. von seiner Mutter und dem Stiefvater wegzulaufen und mit
einem Gaukler wegzuziehen. Als 11jähriger gelang es ihm - angeblich gegen den
Willen der Mutter - eine Anstellung am Hof eines Herzogs zu erlangen und damit
die Trennung von der Herkunftsfamilie durchzusetzen. Er kommentierte diese
Trennung: „Meine Mutter vergaß ich
gänzlich“.[56]
Dieser Herzog wurde ein wichtiger Förderer von Soest
als Sänger. Der Bruch mit diesem Herzog kam folgendermaßen zustande: Zwei
englische Sänger kamen an den Hof und sangen besser als Soest. Daher wollte er
diesen beiden unbedingt nachreisen, um deren Kunst zu erlernen. Er brach mit
dem Herzog, der ihn nicht ziehen lassen wollte und ihn sogar mit der
Hinrichtung bedrohte, sollte er doch den Hof verlassen. Soest verlor
schließlich alle Privilegien und verließ den Hof, um seinem Wunsch
nachzukommen.
Zentral für Soests Anstrengungen ist die Kränkung, die
die Erfahrung, weniger gut als andere zu sein, bei ihm auslöste. Narzißtische
Kränkungen fürchtete Soest am meisten. Er fühlte sich beim Singen der
begabteren Engländer wie „ein Kind“.[57]
Kind-Sein ist bei Soest extrem aversiv konnotiert.
Soests narzißtisch-gestörten Persönlichkeitszüge
lassen sich an weiteren Stellen belegen. Er schmähte seine Lehrer, die er
übertroffen hatte.[58]
In seiner Autobiographie deutete er sein ausschweifendes Sexualleben bei Hofe
an. Er saß wegen Streitigkeiten im Gefängnis und schrieb, daß er einen Gegner
nach einem Streit einmal kastriert hatte - eine tatsächlich archaische
Vergeltung für narzißtische Kränkungen.[59]
Gleichwohl gestaltete er große Teile seiner
Autobiographie als eine Art Selbstanklage. Er beschreibt sich als Verlorener
Sohn, d. h. als reuiges Kind, das nach Ausbruchsversuchen zu seiner Familie
zurückkehren und um Vergebung bitten wollte. Auch seine Beschreibungen von
Jugendlichen voller primitiver Vorwürfe gehören hierher. Man erkennt dabei die
Abspaltung und Projektion eigener verpönter Selbstanteile, etwa wenn er seinem
eigenen Sohn Leidenschaft, Ungeduld und Lügen vorwirft.[60]
Soests aggressives Agieren deute ich daher auch weniger als Ausdruck eines
sozusagen „fehlenden“ Überichs, sondern vielmehr als kippendes Geschehen, bei
dem harte und grausame Überich-Formationen und entsprechende Abwehrvorgänge die
Handlungen leiten.
Johannes Butzbach (1477-1516)
Der spätere Benediktinermönch Johannes Butzbach wurde als 9 Monate
altes Baby zu seiner Tante weggegeben. Zu dieser Tante hatte er eine extrem
ambivalente Beziehung. Bei ihrem Tod - als er 10 Jahre alt war - benennt er die
Trauer zahlreicher Personen, nur nicht seine eigene. Die Beziehung der Tante zu
ihrem Neffen war offensichtlich erotisiert: Die Tante holte den kleinen
Butzbach in ihr Bett, wenn ihr Ehemann außer Haus war.[61]
Klarerweise wird hier eine Positionsverschiebung innerhalb der ödipalen Triade
dargestellt: Butzbach ersetzt in dieser Szene den Ehemann. Es werden zwar
keinerlei manifest sexuellen Übergriffe beschrieben, aber die Szene stellt
einen merkwürdigen Umgang der Tante mit ihrer Angst vor Einsamkeit dar. Auf
Butzbach haben diese Szenen, die sich wiederholten, offensichtlich einen starken
Eindruck gemacht.[62]
Butzbach fürchtete sexuelle Verführung. Obwohl er
extreme Angst vor der Schule hatte - er wurde dort blutig geschlagen - weist er
Eltern an, die Kinder in die Schule zu schicken, weil zu Hause Verführung
drohe, beispielsweise von den „weniger
gebildeten Angehörigen des väterlichen Haushaltes (...). Denn wer im zarten
Kindesalter von ihnen Schlechtes hört und sieht, wird in seiner Seele drin
verdorben.“[63]
Nach dem Tod der Tante kehrte er für etwa ein knappes
Jahr zu seinen Eltern zurück, um dann erneut weggegeben zu werden. Der kurze
Aufenthalt bei seinen Eltern war höchst problematisch. So wurde er einmal auf
Veranlassung seiner Mutter wegen Schuleschwänzens verprügelt.[64]
Direkt an die Darstellung des Vorfalles mit dem prügelnden Lehrer schildert
Butzbach, wie er ganz aus der Familie weggegeben wurde. Der Vater wird hier zum
ersten Mal als einzeln handelnde Person erwähnt. Ein Beanus nimmt Kontakt mit
Butzbachs Vater auf. Ein Beanus ist ein älterer Jugendlicher, der mit Kindern,
den sogenannten Schützen, herumzieht.[65]
Vordergründig besteht dabei die Absicht, Schulen anzulaufen. Diese Absicht kann
allerdings ein Vorwand sein, wie anhand der Autobiographien von Butzbach und Thomas
Platter[66]
klar belegt werden kann. Butzbachs Eltern liefern ihren 10jährigen Sohn einem
ihnen unbekannten Jugendlichen auf Gedeih und Verderb aus. Bei diesem Beanus
erlebt Butzbach eine fortgesetzte Kette von Mißhandlungen und Ausbeutung.
Aufschlußreich in bezug auf Butzbachs
Persönlichkeit ist seine Form der Darstellung dieser Weggabe. Die Szene, in der
er mit dem Beanus wegzieht, kommentiert er folgendermaßen:
„Da begann ich zum ersten Mal die Liebe des
Sohnes zu seinen Eltern zu spüren, die ich ihnen nun nicht mehr zeigen konnte.
Wahrlich, damals sah ich zum ersten Male ein, wie unfehlbar die Liebe der
Eltern zu ihren Kindern ist, und ich lernte, wie traurig der Abschied eines
Geliebten ist.“[67]
Die Verdrängung der Wahrnehmung seiner realen Beziehungen zu den Eltern
und seiner extremen narzißtischen Kränkung durch diese elterliche Weggabe wird
an dieser Stelle perfektioniert. Butzbach muß starke Reaktionsbildungen gegen
seine aggressiven Impulse aufbieten, so überschießend, daß er diese Trennung
zum Anlaß nimmt, das Eltern-Kind-Verhältnis zum idealen Liebesverhältnis zu
erklären. Butzbach als erwachsenem Schreiber seiner Autobiographie war es nicht
möglich, ein Wort der Kritik an seinen Eltern zu äußern bzw. sich von dem
Geschehen als jetzt erwachsener Mensch zu distanzieren. Offene Kritik an den
Bezugspersonen findet sich in der gesamten Autobiographie nicht.
Die Existenz idealisierter Elternbilder (insbesondere
von Vater-Imagines) dient im Sinne der primitiven
Idealisierung dem Schutz vor der Erkenntnis vernachlässigender Eltern.
Diese abgespaltenen Elternbilder und insbesondere eine gehaßte primitive
Mutter-Imago zeigen sich häufig bei Butzbach. In seiner Autobiographie wendet
sich der erwachsene Butzbach ständig gegen (weltliche) Liebesbeziehungen und
gegen Frauen ganz allgemein, die er häufig als Verführerinnen und Hexen betrachtet.
Butzbach schreibt: „Oh, welche Dummheit
ist da doch bei den Männern und - oh! - was für ein betrügerischer Spott und
welche Finte bei den Frauen! Wen haben die Frauen nicht alles verspottet und
hinters Licht geführt![68]
Butzbach war ein glühender Hexenhasser. In Gedichten
feierte er den Hinrichtungstod einer angeblichen Hexe. Er beschreibt darin wie
die „leichenblasse Zauberin“ den Abt
des Klosters Laach mit einem Käse, in dem Eisenhut enthalten war, vergiftet
habe. Diese Frau belegt Butzbach mit einer Reihe extrem abfälliger
Bezeichnungen, darunter „giftmischende
Zauberin“, „allerübelste Zauberin“,
„böses(s) Weib“, „schändliche entstellte Alte,
verbrecherische Hure, geschwätzige Hündin, bissige Diebin“.[69]
Die Frau wurde zur Erzwingung eines Geständnisses an den Brüsten gefoltert.[70]
Das Thema der Brust spielte bereits in dem einleitenden Satz der Autobiographie
eine wichtige Rolle. Dort schreibt Butzbach, daß er der Mutterbrust von der Tante entrissen wurde; im Gedicht ist die
Rede von einer glühenden Zange, mit der die Brust der Frau traktiert wird.
Später schreibt Butzbach, daß die Frau mit einer Zange „zerpflückt“ wurde. Was
zunächst dem Partialobjekt Brust angetan wird, erfolgt dann am ganzen Objekt.
Butzbachs Beschreibung stellt den Zusammenhang zwischen den phantasmatischen
Elementen aus Kindheit und Erwachsenenleben her. Butzbach hebt hervor, wie
sexuell gierig diese Frau angeblich war:
„Ein Dämon war ihr Freier und Ehemann, der mit ihr schlief, sooft sie es
wollte. Denn sie war überaus geil und unersättlich (...).“[71]
Der Partner der Frau wird also nur blaß als Dämon bezeichnet; die Aktivität
geht von der Frau aus. Über die Tante schreibt Butzbach, daß sie ihn zu sich
ins Bett nahm, wenn der Ehemann nicht anwesend war. Die ödipale Struktur der
sexuell aktiven Frau (der Tante) und ihres nur am Rande erwähnten und häufig
abwesenden Ehemannes (des Onkels) findet sich in Umrissen auch in seiner
Beschreibung der Hexe und ihrem Dämon. In der Geschichte mit der Tante im Bett
fehlen allerdings gerade die Andeutungen manifest sexueller Aktivität der Tante
bei gleichzeitiger Darstellung einer massiven Verschiebung innerhalb der
ödipalen Triade.
Butzbach attackiert in seinem Hexen-Gedicht auf
exzessive Weise ein verzerrt erscheinendes Phantasma von einer Frau. Diesem
Hexen-Phantasma Butzbachs entsprechen die zuvor bereits erwähnten Aggressionen
gegen Frauen und auch gegen prototypisch weibliche Körperteile, die mit
unbewußten Aggressionen gegen die Mutter und gegen die Tante verknüpft sind.
Butzbachs Überich wirkt grausam. Man findet bei ihm
kaum Passagen über Wohlbefinden, körperliche Ruhe und Entspannung, menschliche
und gelebte Zuneigung etc. Wenn sich überhaupt Beziehungswünsche abzeichnen,
dann in einer Sphäre, wie sie zu weit entfernten idealisierten Vorbildern
möglich ist. Er bleibt damit näher an realen Beziehungen als die Mystiker,
allerdings zeigt sich nirgendwo eine normale gelebte Beziehung zu einem
Menschen. Seine mönchische Lebensweise und seine exzessiven - wenngleich
literarisch sublimierten - Aggressionsentbindungen an verzerrten Phantasmen
verweisen auf archaische Überich-Vorläufer.
Die narzißtischen Persönlichkeitszüge Butzbachs
bestehen u. a. in seinem selbstgerechten Moralisieren, seiner Bewunderung für
distanzierte exzessiv idealisierte Vaterfiguren und seiner deutlich werdenden
Kränkung durch die angebliche Hexe, an der er seine narzißtische Wut erleben
und geradezu ausleben kann.[72]
Die Überiche Soests, Butzbachs und
weiterer Autoren, die als Kind Weggaben erlebten, sind erheblich integrierter
als die der Mystiker. Die Konflikte sind weniger archaisch, Halluzinationen
treten selten auf (wenngleich bei einigen in Streßphasen durchaus nachweisbar),
Beziehungen zu realen Personen werden eher eingegangen. Bei Kränkungen zeigen
sich massive Aggressionsentbindungen gegen externe Objekte.
Die neurotische Persönlichkeitsstruktur soll hier nur kurz umrissen
werden, wobei die Abhebung von den ersten beiden Formen zentral ist.
Neurotische Persönlichkeiten verfügen über eine erheblich reifere
Impulskontrolle und reifere Abwehrmechanismen. Diese basieren auf der
Verdrängung, während (insbesondere) Borderline-Persönlichkeiten durch den
massiven Einsatz der Spaltung gekennzeichnet sind. Neurotische Persönlichkeiten
sind fähiger zur Einfühlung und zum Empfinden zugewandter Gefühle für andere,
als die beiden zuvor skizzierten Persönlichkeitstypen.
Felix Platter (1536-1614)
Felix Platter wuchs in einer protestantischen Familie auf. In seiner
Kindheit spielte Weggabe keine bzw. nur eine untergeordnete Rolle. Er lebte
jedenfalls bis zu seinem 17. Lebensjahr in seiner Familie. Materiell ging es
den Platters gut. Felix‘ Kindheit war gekennzeichnet durch die Betreuung durch
eine Amme bzw. ein Kindermädchen, durch die äußerst strenge Beaufsichtigung
durch den Vater, dessen Erzeugung von Schuldgefühlen, dessen schwere Schläge
und Nicht-Dulden von jeglicher Form von Ungehorsam.
Als der etwa 10jährige Felix seinem Vater einmal ein
Messerchen zerbrochen hatte, lebte er monatelang in massiven Schuldgefühlen.[73]
Gleichzeitig getraute er sich nicht, das Ganze seinem Vater zu sagen. Wie
massiv der Vater Schuldgefühle erzeugen konnte, zeigt sich in folgender Passage
in einem Brief an den 19jährigen Felix, der in Montpellier Medizin studierte.
Der Vater benutzt den Pesttod der Schwestern von Felix, um ihn zum Studieren
anzutreiben:
„(...) oh, daß Gott wolle, daß ich das
[Promotion und Heirat des Sohnes] erlebe mit samt deiner lieben Mutter, und daß
dieses alles zur Ehre Gottes und zum Nutzen des Nächsten geschehe, sonst wollte
ich, du wärest auch mit deinen anderen Schwesterlein längst vergraben.“
„Denn das sollst du wissen, wenn ich wüßte,
daß du deine Zeit etlichermaßen solltest verschlampen, so väterlich ich es
jetzt mit dir meine, so unbarmherzig würde ich gegen dich werden, und sollst
wohl anfangen, daß dir nicht wohl käme, darum so hüte dich, ich vertraue dir
wohl, und du freust uns.[74]
Der Vater erpreßte hier seinen Sohn regelrecht. Die Internalisierung
derartiger Forderungen kennzeichnete Felix Platters Überich.
Felix Platter litt zeitlebens an einer „Ring-Phobie“:
Er konnte keine Ringe ansehen oder anfassen, ohne massive Ekel-Reaktionen zu
erleiden.[75]
Man muß dies im Zusammenhang damit sehen, daß er ein berühmter Arzt war und zu
den ersten gehörte, die Leichenöffnungen vornahmen. Die Genese des Ring-Ekels
steht im Zusammenhang mit einer überbordenden Kastrationsangst bei sexuellen
Regungen. Die Phobie basiert auf einer Verdichtung aus mehreren
Kindheitsszenen: Platter wurde von einer Amme gefüttert, die einen
verstümmelten Finger hatte. Seine Mutter schnitt ihm einmal in den Finger.
Seine Schwester erschreckte ihn mit Ringen aus einer zerschnittenen Gurgel, und
Felix erlebte als Kind, wie ein Sexualstraftäter enthauptet wurde. Die
einzelnen Elemente dieser Szenen verdichtete er zur Phobie. Er vermied dadurch
symbolisch das vaginale Ring-Objekt, um der gefürchteten Kastration zu
entgehen.
Platter wies darüber hinaus diverse neurotische
Konfliktlösungen auf. Er neigte zur Intellektualisierung, Affektisolierung und
Verschiebung, wie im folgenden illustriert wird. Felix Platter wurde von seinem
Vater geradezu bestimmt, ein Arzt zu werden.[76]
Dadurch wurde er für seinen Vater ein emotional unglaublich wichtiger
Delegierter im Sinne Stierlins. Als Problem tauchte dabei aber auf, daß Felix
bereits als Kind zu Ekelreaktionen neigte. Er versuchte daher, zu einer Art
psychischer Abhärtung zu gelangen. Er schreibt, daß er gerne bei Schlachtungen
zugesehen und sich die inneren Organe genau betrachtet hat: „Deshalb habe ich mich sehr darauf gefreut,
sooft man Schweine gemetzgt hatte und allzeit sehr um eine Erlaubnis gebeten,
damit ich dem Metzger fleißig mochte zusehen, als er die inneren Glieder
zerteilte und damit umging.“[77]
Die artikulierte „Freude“ darf wohl als nachträgliche Einfügung verstanden
werden, die auf massiven Reaktionsbildungen beruht. Nicht nur hier, sondern
auch bei späteren Darstellungen etwa von Hinrichtungen hat er einen extrem
kühlen Darstellungsstil, der seine Herkunft von gerade entgegengesetzten
Gefühlen verrät. So ließ er einmal einen Vogel zur Ader, der daraufhin starb.
Platter schreibt, daß er darüber lange bekümmert war, was seinen zunächst vorhandenen
Konflikt zwischen Emotion und kalter Professionalität nochmals hervorhebt.
Platter war zu dieser Zeit etwa 14 oder 15 Jahre alt.
Als Erwachsener konnte Platter bei der Erreichung
persönlicher Ziele mitunter rücksichtslos agieren, etwa wenn er seine
Stiefmutter dazu zwingen wollte, ihm die Kinder, die sie mit seinem Vater
hatte, in Obhut zu geben. Felix Platter brachte so seine Halbgeschwister
gleichsam in seinen Besitz. Er selbst blieb kinderlos und war evtl. - wie
Casimir Bumiller und ich vermuten - sexuell impotent.[78]
Felix Platters Überich ist streng und weitgehend
integriert, seine neurotischen Konflikte behindern sein außerfamiliäres Leben
nur wenig, scheinen aber seine persönliche Beziehungsfähigkeit doch sehr
weitgehend beeinflußt zu haben. Seine Ehe beispielsweise scheint unglücklich
verlaufen zu sein.
Auffällig ist, daß dieser bedeutende Arzt sich nur
äußerst wenig dem massiven Einfluß seines Vater entziehen konnte und zeitlebens
ein gehorsamer Sohn blieb. Wenn sich Kritik am übermächtigen Vater findet, dann
niemals direkt, sondern immer nur unterschwellig.
Andreas Ryff (1550-1603)
Andreas Ryff wuchs wie Platter in einer protestantischen Familie auf.
Er wurde als Kind geschlagen und mit 10 Jahren für mehrere Jahre in die Lehre
außer Haus gegeben. Es fand also eine Art später und milderer Weggabe statt.
Auffällig sind bei Ryff seine Identifikation mit harten und prügelnden,
immerhin aber zuverlässigen Vater-Figuren in den Ersatzfamilien. Ryff wurde mit
etwa 12 Jahren für drei Jahre bei einem Gewürzkrämer untergebracht. Dieser
Gewürzhändler schlug ihn im Jahr ca. 30 Mal mit der Rute blutig.[79]
Die Ursache für die Prügelstrafen waren dabei geringe Vergehen, wie etwa
ungenügendes Auswischen des Ladens. Die Bestrafungen wurden darüber hinaus
ritualisiert. So schickte der Krämer die übrigen Angestellten in die Kirche,
ließ Ryff aber zu Hause bleiben und vollzog dann seine Bestrafungsakte. Ryff
beschwerte sich trotzdem nicht, weil ihm der Nutzen dieser Stelle derart wichtig
ist, daß er die Bestrafungen in Kauf nahm. Er äußert sich positiv über die Frau
des Krämers, die ihm gewogen war, und er lobt den Krämer für seine christliche
Zucht. Es ist nicht klar, ob derartige Identifikationen mit dem Aggressor eher
bei intrusiven oder bei ambivalenten Erziehungsformen anzutreffen sind. Es
scheint sich abzuzeichnen, daß das Gefühl, zur Familie des Krämers zu gehören,
so wichtig für Ryff war, daß er die sadistischen Züge des Mannes in Kauf nahm.
Dies wiederum wirft ein Licht auf Ryffs Herkunftsfamilie.
Der Vater scheint Ryff eine gewisse Fürsorge
entgegengebracht zu haben. Er wollte, daß sein Sohn später studiert und
richtete ihm ein eigenes Zimmer ein, mit der Absicht, daß sein Sohn Interesse
an Bildung entwickelt. Außerdem bekam Ryff Unterricht von Hilfslehrern. Ryff
lehnte die Schule aber ab. Seine eigene Mutter erwähnt Ryff praktisch nie, was
vermutlich auf gravierende Konflikte mit ihr hinweist.
Ryff scheint seine gesamte Autobiographie geschrieben
zu haben, um seiner unglücklichen Liebe zu einer Frau, der Tochter seines Lehrherren,
ein Denkmal zu setzen.[80]
Er beschreibt auf 10 Druckseiten dieses Drama. Die Eheschließung beider wurde
verhindert, weil beide Elternpaare jeweils von ihren Kindern verlangten, daß
sie bei den Eltern wohnen blieben. Ryff wird bei der Beschreibung sehr deutlich
und emotional. Das Beschreiben derartiger Gefühle in direktem Bezug zu einem
Beziehungspartner - und nicht etwa gerichtet auf Phantasmen religiöser oder
sonstiger Provenienz - sowie die deutliche Artikulation der Trauer ist sehr
selten in den historischen Autobiographien. Sie verweist auf eine integrierte
Persönlichkeit, die einen reifen Umgang mit derartigen Gefühlen erlaubte.
Ryff konnte sich zwar dem Einfluß seines Vater nicht
entziehen und blieb gehorsam - genau wie Felix Platter. Immerhin wird er an
manchen Stellen in der Kritik deutlicher. So schreibt er ganz klar: „In summa, alldieweil ich unter der Rute
gewesen, habe ich nicht anzeigen dürfen, was ich gedacht habe und wohin mich
das Licht der Natur gewiesen hat.“[81]
Erziehung von kleinen Kindern wird hier als die Zeit „unter der Rute“
bezeichnet, was das Vorkommen von Schlägen in dieser speziellen Familie
dokumentiert.
Später, nach der unglücklichen Liebe, lebte er wieder
bei seinen Eltern und arbeitete im Geschäft des Vaters. Die Zusammenarbeit mit
dem Vater war konfliktreich. Dieser versuchte, die Art der Arbeit und des
Handels zu bestimmen, und Ryff bat ihn erfolglos, doch alleine entscheiden zu
können. Ryff beschreibt seinen Wunsch nach Verlassen der Familie: „(...) und gedachte etliche Male hinwegzuziehen
und mich in Herrendienst zu begeben, welches aber meinem Herz jederzeit
widersprochen (...).“[82]
Ryff blieb aber letztlich bei seinem Vater und zeitlebens ein gehorsamer
Sohn. Ryffs Überich ähnelt dem Felix Platters, ist vielleicht sogar etwas
integrierter.
Hermann von Weinsberg (1518-1597)
Weinsberg hatte die mit Abstand zugewandteste Kindheit in der
Stichprobe. In der Familie Weinsbergs spielte Weggabe keine Rolle, im
Gegenteil: Die Familie nahm sogar weitere Kinder aus der Verwandtschaft der
mütterlichen Seite auf. Insbesondere Weinsbergs Beziehung zu seinem Vater trägt
- als einzige der Stichprobe - moderne Züge. Dagegen gab es in der
Mutter-Kind-Beziehung emotionale Probleme und archaische Züge. So entwöhnte
etwa die Mutter ihren halbjährigen Sohn, indem sie ihre Brüste schwarz färbte
und ihn dadurch erschreckte.[83]
Immerhin war sein Vater ihm zugewandt. Den 18 Monate alten erkrankten Säugling
tröstete der Vater, der dazu aufstehen mußte:. „(...) und wie mir oft gesagt wurde, war ich damals gar ungeduldig und
lästig gewesen, daß mein Vater nachts oft hat aufstehen müssen, mir auf einem
Becken gespielt und gepfiffen, daß ich schweigen sollte.“[84]
Diese Szene ist in den historischen Autobiographien einmalig.
Beide Eltern schlugen ihr Kind, allerdings schlug die
Mutter offensichtlich häufiger. Als sie den 6jährigen Weinsberg einmal sehr
geschlagen hatte, rannte er zu seinem Vater und beklagte sich:
„(...) und wie ich ihm [dem Vater] mein Elend
klagte, daß ich geschlagen worden war, hob er an, seine Kurzweil und Scherz mit
mir zu treiben und sagte zu mir: »Wohlan, was rätst du dazu? Wollen wir deine
Mutter aus dem Haus treiben, oder wollen wir oben auf dem Saal wohnen und deine
Mutter unten im Haus wohnen lassen?« Darauf sagte ich: »Laßt sie unten wohnen
und uns oben.« Und dies gefiel meinem Vater wohl, daß ich sie nicht vertreiben
lassen wollte um eines bißchen Schlagens willen.“[85]
Das Mutter-Sohn-Verhältnis scheint wiederum konfliktreicher als das
Vater-Sohn-Verhältnis. Weinsberg erwartet von seinem Vater Unterstützung und
Hilfe, andernfalls würde er gar nicht erst versuchen, sein Verständnis zu
erhalten. Die Szene zeigt weiter, daß Weinsberg sich nicht einfach mit den
Handlungsweisen der Mutter identifizierte, sondern in der Lage war, sie zurückzuweisen.
Die Aufrechterhaltung dieser Distanzierung wird durch die Reaktion des Vaters
ermöglicht. Weinsberg wird dadurch nicht gezwungen, generell den Standpunkt der
Eltern einzunehmen, sondern erlebt, daß es
mehr als eine Sichtweise der Wirklichkeit gibt.
Weinsberg war sehr auf den Vater fixiert und
relativ wenig autonom ihm gegenüber. Dies hängt auch damit zusammen, daß er
seine Mutter als emotional unzuverlässig erlebte. Jedenfalls reagierte
Weinsberg mit Depressionen und psychosomatischen Erkrankungen bei massiveren
Konflikten mit dem Vater.[86]
Trotzdem scheint mir seine Persönlichkeit und auch sein Überich als das
integrierteste im Sample, wie ich im folgenden verdeutlichen will.
1536, als Weinsberg 18 Jahre alt war, glaubte
seine Mutter, verhext zu sein.[87]
Herz- und Brustschmerzen führte die Mutter auf eine vermeintliche Hexe zurück,
eine Frau aus der Nachbarschaft. Auffällig ist die Tatsache, daß die Mutter
sich an derjenigen Körperregion von einer Frau verzaubert fühlte, die für ihren
Sohn bei der Entwöhnung erschreckend-schwarz gefärbt worden war: die Brust.
Diese Körperregion ist in hochbesetzte frühkindliche Szenen involviert, deren
Internalisierung unbewußte Strukturierungen nach sich zieht. Die Brustschmerzen
der Mutter Weinsbergs können somit als Ausdruck für problematische
Beziehungserlebnisse innerhalb der eigenen frühen Mutter-Kind-Interaktionen
verstanden werden. Insofern wäre zu vermuten, daß Weinsbergs Mutter auf
psychosomatische Weise möglicherweise eigene Traumata oder Deprivationen im
Zusammenhang mit Stillerlebnissen reinszenierte. Die aversive Entwöhnung ihres
Sohnes und die psychosomatischen Brustschmerzen, die in einen magischen
Zusammenhang gestellt werden, wären somit Folgen der gleichen Ursachen in der
Kindheit der Mutter. Die vermeintliche Hexe ist wohl als Repräsentantin ihrer
frühen Mutter im Zusammenhang mit mißlingenden Objekterfahrungen anzusehen. Ihr
Umgang mit der Nachbarin basierte demnach auf einer magisch-projektiven
Konfliktverarbeitung, deren Wurzeln in problematischen
Sozialisationserfahrungen in der eigenen Kindheit vermutet werden können.
Weinsberg und sein Vater wollten der Mutter
diese „Phantasie“[88]
ausreden. Die Mutter bestand aber darauf, ihre Schmerzen mit christlichen und
magischen Methoden zu behandeln: Sie ließ Messen im Dom lesen und besorgte sich
Knochen, die schon lange in der Erde vergraben waren, zu Heilzwecken. Vater und
Sohn entwickelten dagegen die Theorie, daß die Brustschmerzen vom Spinnen
kamen. Der Mutter teilten sie mit, sie solle die einseitige Belastung
vermeiden. Sie folgte dem Rat, und daraufhin trat tatsächlich eine Besserung
ein.
Weinsbergs Reaktion auf die Phantasien der
Mutter entsprach seinen Besetzungen der beiden elterlichen Objekte. Es gelang
ihm, seine vermutlich problematischen Früherfahrungen mit seiner Mutter dadurch
zu kompensieren, daß er sich mit dem realistischeren und auch emotional
zugewandteren Vater identifizierte. Tatsächlich läßt sich nicht eine einzige
sinnvolle und zugewandte Interaktion mit
der Mutter rekonstruieren, dagegen sprechen mehrere rekonstruierbare
Interaktionen mit dem Vater schon im Kleinstkindalter für eine (in heutigem
Sinne!) weitgehend normale Zuwendung. Die Auswirkung dieser Zuwendung auf
Weinsberg im Sinne der Entwicklung einer integrierten Persönlichkeit lassen
sich im folgenden demonstrieren.
Weinsberg artikulierte selten echte
eigenständige Stellungnahmen zu politischen oder weltanschaulichen Fragen. Zum
Problem der Existenz von Hexen und Magie äußerte er sich allerdings recht
dezidiert. Er nahm zwar keine ausdrückliche Position ein, etwa indem er
schreibt, daß es Hexen nicht gibt. Aber er schreibt, daß es „böse Leute“ seien,
die andere Personen der Zauberei beschuldigten und sie dadurch in Verruf
brächten.[89]
Er erkannte also die sozialen Ursachen und Folgen der Denunziationen. Er
analysierte sogar, wie das Gerücht entsteht, daß jemand eine Hexe sei und wie
sich die Evidenz lediglich durch den Verdacht sowie dessen ungeprüfte
Weitergabe ergibt. Seine hier echt moderne Skepsis hing mit seiner Beziehung zum
Vater und dessen Ansichten zusammen und entsprach einer Distanzierung von den
magischen Auffassungen seiner Mutter. Zu den „bösen Leuten“, die den Verdacht
ungeprüft aussprechen, wäre auch die Mutter zu zählen. Weinsberg trennte den
Kommentar zum Hexenwahn (4. Band) von seiner Darstellung der Szene mit der sich
verzaubert glaubenden Mutter (1. Band), der Zusammenhang ist aber deutlich.
Vermutlich verwendete Weinsberg seine Identifikation mit dem Vater zur Verteidigung
gegen ein für ihn unberechenbares mütterliches Objekt, das ihm weit größere
Angst machte. Daher unterwarf er sich wohl auch den väterlichen Vorgaben so
weitgehend.
Wegen dieser eigenständigen Distanzierung von den magischen
Glaubenssystemen seiner Umwelt durch die ihm mögliche Identifikation mit einem
zugewandten Vater möchte ich die Persönlichkeit Weinsbergs von der der anderen
Autobiographen absetzen. Der erheblich gebildetere Felix Platter etwa war sehr
dämonengläubig.[90]
Weinsbergs Persönlichkeit soll daher als (im eigentlichen Sinne) neurotische verstanden werden; Felix
Platters Persönlichkeit (und vergleichbarer Autobiographen) soll demgegenüber
als archaisch-neurotisch bezeichnet
werden. Der entscheidende Unterschied besteht darin, daß bei der
archaisch-neurotischen Persönlichkeit infolge eines sehr strengen Überichs kaum
Duldung für bewußte regressive Tendenzen besteht. Hinzu kommt, daß eine
erheblich größere Tendenz zur sozialen Konformität besteht. Ryffs
Persönlichkeit bildet m. E. einen Übergang zwischen den beiden hier
gegenübergestellten Prototypen.
Im folgenden wird diskutiert, was sich anhand des hier untersuchten
Materials über den Wandel von Kindheit, Persönlichkeitsstrukturen und Überich
aussagen läßt. Hierzu werden zunächst einige präzisierte Angaben zur Bildung
des Samples gemacht. In bezug auf die Mystiker wurden sechs relativ eindeutig
als Autobiobiographie bezeichenbaren Texte ausgewählt.[91]
In bezug auf die säkularen Autobiographen wurden alle deutschsprachigen
Autobiographien im Zeitabschnitt untersucht, die mehr als nur wenige Sätze über
Kindheit enthalten.[92]
Es ist nicht ganz klar, wieviele Autobiographien die genannten Kriterien
erfüllen und trotzdem nicht in das Sample gelangt sind. Aufgrund der in den
einschlägigen Sammelwerken immer wieder genannten Autobiographien ist
jedenfalls zu schließen, daß der Großteil der existierenden Autobiographien
untersucht wurde, die überhaupt Darstellungen der Kindheit enthalten.[93]
Es ist nun zu fragen, inwiefern die n=20
Autobiographen den Wandel bzw. die Evolution von Kindheit und
Persönlichkeitsstrukturen in der damaligen Gesamtbevölkerung repräsentieren.
Der hier gewählte Zugang zur Kindheit basiert auf Autobiographien. Das
Herstellen von Texten war damals nur einer winzigen Bevölkerungsgruppe möglich.
Diese extreme Selektion zwingt zur Vorsicht beim Schluß von der Stichprobe auf
die Population. Für die säkularen Autobiographien gilt klarerweise, daß sie ein
Bild der Kindheit ergeben, daß für die weitaus privilegiertesten Personen ihrer
Zeit gilt. Diese Annahme ergibt sich dadurch, daß (a) jeder Autor einer
Autobiographie seine Kindheit überlebt hatte; (b) lesen und schreiben konnte;
(c) zur Zeit der Abfassung der Autobiographie einer gehobenen Schicht angehörte
und über Ressourcen verfügte, eine Autobiographie zu schreiben und (d) keine
schwerwiegenden seelischen oder geistigen Defekte hatte, die ihm eine Abfassung
der Autobiographie unmöglich machte. Mit zumindest gesteigerter Wahrscheinlichkeit
gilt in bezug auf den Autor, daß er (e) einer privilegierten Schicht angehörte;
(f) ein Mann war; (g) über eine gute Bildung verfügt; (h) sich und sein Leben
für besonders wichtig und mitteilenswert hielt und (i) den Wunsch hatte, eine
Autobiographie zu verfassen.
Aus diesen Hypothesen läßt sich ableiten, daß der
Autobiograph tendenziell gute materielle Kindheitsbedingungen hatte. Die
Kindheit eines analphabetischen Bauernkindes wird kaum in Autobiographien zu
finden sein. Die genannten Hypothesen ergeben eine Grobabschätzung dahingehend,
daß die Personen im Sample tendenziell Repräsentanten einer im jeweiligen
historischen Vergleich privilegierten Kindheit unter besseren materiellen
Bedingungen sind. Kindheit dürfte somit durch die Vertreter des Samples nach
„oben abzuschätzen“ sein, d. h. historische Kindheit war wohl kaum „besser“,
als aufgrund der Autobiographien des Samples zu rekonstruieren ist.[94]
Diese Abschätzung nach oben läßt sich allerdings so
klar für die mystischen Texte nicht belegen. Schon zu ihrer Zeit waren die
Mystiker, insbesondere aber die Mystikerinnen, auffällig und marginalisiert.
Andererseits gilt auch in bezug auf die Gruppe der Mystiker, daß sie großteils
aus materiell privilegierten Schichten stammten.[95]
Gleichwohl könnte es sich um eine Subgruppe von Schwersttraumatisierten mit
relativ guten materiellen Voraussetzungen handeln. Ich vermute, daß eine große
Anzahl der mittelalterlichen Zeitgenossen nicht unter derart problematischen
Eltern-Kind-Beziehungen litten, wie ich sie für die Gruppe der Mystikerinnen
und Mystiker rekonstruiert habe.
Festzuhalten ist allerdings, daß das hier
zusammengestellte Sample repräsentativ für die schriftliche Darstellung individueller Kindheit und der eigenen
Persönlichkeitsstruktur in Deutschland zwischen vom 13. bis 17. Jahrhundert
ist. Ich vermute aber, daß die mystischen Texte von niedrigeren Psychoklassen,
d. h. also von Angehörigen eines niedrigen psychogenetischen Modus, verfaßt
wurden. Dadurch wird das rekonstruierbare Bild der Kindheit in dem
entsprechenden Zeitabschnitt stark in Richtung des infantiziden (bzw.
sexualisierten) Modus verschoben. Zur damaligen Zeit haben sicher religiöse
Laien und Virtuosen gelebt, deren Kindheit auf höherem psychogenetischen Niveau
angesiedelt war. Diese Vermutung bedarf allerdings der empirischen Überprüfung.
Anhand zahlreicher Stellen kann gezeigt werden, wie
massiv Auswirkungen von Kindheitsdeterminanten in das Erwachsenenleben
hineinragten. Interpretierend kann somit hinzugefügt werden, daß die
herauspräparierten Ähnlichkeitsbeziehungen zwischen Kindheitsstrukturen und
bestimmten Strukturen des erwachsenen Lebens auf einer kausalen Wirkung der niedergelegten Erinnerungsspuren beruhen. Die
Untersuchung der Autobiographien erlaubt also die Stützung der Annahme, daß
Kindheit und Persönlichkeitsstrukturen sich simultan wandeln. Innerhalb des
untersuchten Zeitabschnitts läßt sich klar ein Wandel von Kindheit
dokumentieren, der in der Tendenz eine deutliche Verbesserung der affektiven
Qualität der Eltern-Kind-Beziehungen mit sich brachte. Gleichzeitig zeichnet
sich ab, daß die Persönlichkeiten reifer werden. Zwar ist keine
„1-zu-1-Zuordnung“ von Kindheit und Persönlichkeitsstruktur möglich, immerhin
finden sich Zusammenhänge. Diese Zusammenhänge werden im folgenden nochmals
anhand von Tabellen und Graphiken illustriert. Zunächst wird eine tabellarische
Zusammenfassung zu den drei bzw. vier Persönlichkeitsstrukturen entworfen.
Tabelle 1: Evolution von Persönlichkeit und Überich
|
Borderline-Persönlichkeitsorganisation |
neurotische Persönlichkeitsorganisation |
||
|
Borderline-Persönlichkeit |
narzißtische Persönlichkeit |
archaisch-neurotische
Persönlichkeit |
neurotische Persönlichkeit |
Überich-Beschaffenheit |
abgespaltene Überich-Vorläufer mit sadistischer Qualität; geringe
Integration |
integrierter als bei den Mystikern, aber trotzdem hart und grausam |
streng; kaum Duldung bewußt regressiver Aspekte |
weniger streng mit Duldung bewußt regressiver Aspekte |
vorherrschende
Abwehrmechanismen |
exzessive Spaltung,
Dissoziation, primitive Idealisierung, projektive Identifikation |
Spaltung und Projektion |
Verdrängung |
Verdrängung |
Folgen
für die Person |
Selbstbeschädigung und
Autoaggression, Impulsdurchbrüche, extreme Ablehnung von Sexualität, Scham-
und Schuldgefühle dominant, psychotische Episoden häufig, Masochismus
dominiert, Depersonalisation, Derealisation |
Heteroaggression (meist) ausgeprägter als Autoaggression, psychotische Einsprengsel (aber selten), tendenziell sadistische Tendenzen; z. T. psychosomatische Verarbeitungsmodi |
neurotische Abwehrformationen;
keine psychotischen Episoden; sozial äußerst konform |
neurotische Abwehrformationen;
keine psychotischen Einsprengsel; sozial weniger konform |
Kennzeichen
der Kindheit |
Deprivation und sexueller
Mißbrauch; infantizid-sexualisierter Modus |
häufig: Weggabe-Modus |
verschiedene psychogenetische
Modi, inbesondere ambivalenter Modus |
intrusiv-sozialisatorischer
Modus |
zentrale
Angstphantasie |
Angst vor Vernichtung und
totalem Objekt-Verlust |
häufig: Angst vor Kränkung
und Erniedrigung |
Kastrationsangst im engeren
Sinne |
Kastrationsangst im engeren
Sinne |
Auftreten |
13. Jhdt. und früher |
ab spätem 14. Jhdt. |
ab Mitte des 15. Jhdts. |
ab frühem 16. Jhdt. |
typischer
Vertreter |
Seuse |
Soest |
F. Platter |
Weinsberg (einziger Vertreter) |
Im folgenden wird die Persönlichkeitsstruktur mit dem sogenannten psychogenetischen Modus im Sinne von
deMause in Verbindung gebracht. Dieser Modus erlaubt eine Kurzbeschreibung der
Eltern-Kind-Beziehungen unter Berücksichtigung der affektiven Qualität dieser Beziehungen. Dabei betont deMause die
realen Beziehungserfahrungen, die Kinder mit ihrem Eltern erlebten. Er geht
dabei sozusagen nicht von der phantasmatischen Seite, sondern von den
Realerlebnissen ausgehend an die Beschreibung historischer Eltern-Kind-Beziehung
heran. Er entwickelte hierzu ein grobes Schema der Evolution der
Eltern-Kind-Beziehungen im Westen seit der Antike bis heute. Das von deMause
vorgeschlagene Periodisierungsschema enthält eine Kurzcharakteristik des
jeweiligen Beziehungsmodus und die Angabe, wann der „psychogenetisch jeweils fortgeschrittenste Teil der Bevölkerung in den
fortgeschrittensten Ländern“ zu einem neuen Modus der Eltern-Kind-Beziehung
überging.[96]
Diese sechs Beziehungsformen werden im folgenden skizziert:
(1.)
Infantizider Modus (seit prähistorischer Zeit)
Ein großer Teil der Kinder wird von den Eltern
getötet; gleichzeitig ist die Beziehung der Eltern zu den überlebenden Kindern
vernachlässigend und sexualisiert. Der Modus wurde als „infantizid“ bezeichnet,
weil die überlebenden Kindern von der Tötung ihrer Geschwister wissen und sie
fühlen, daß ihr persönliches Leben für ihre Betreuungspersonen nicht wichtig
ist.
(2.)
Weggabe-Modus (seit dem 4. Jahrhundert)
Nach deMause waren die Christen die erste Gruppe, die
versuchten, den Infantizid zu beenden. Statt dessen gaben die Eltern ihre
Kinder weg zu Säugammen, Klöster und andere Haushalte, wo Kinder als Diener
eingesetzt wurden. Der sexuelle Gebrauch verringert sich, das Schlagen bleibt
üblich.
(3.)
Ambivalenter Modus (seit dem 12. Jahrhundert)
Zentral wird die Eigenheit, daß das Kind abwechselnd
als gute und böse Figur erlebt wird. Der Terminus „Ambivalenz“ wird hier in
einem spezielleren Sinn als üblich verwandt und bezeichnet das Oszillieren der
Eltern zwischen gespaltenen, guten und bösen Phantasmen vom Kind. Die Eltern
weisen handlungsleitende Phantasien von der Formung des kindlichen Körpers
(durch Wickeln und Pressen) auf. Ganz allgemein spielt der kindliche Körper
eine maßgebliche Rolle bei der Eltern-Kind-Beziehung im Rahmen dieses Modus.
(4.)
Intrusiver Modus (seit dem späten 16. Jahrhundert)
Das Kind wird weniger körperlich als vielmehr
psychisch kontrolliert. Es erfolgt eine permanente Auseinandersetzung mit dem
kindlichen Willen, den kindlichen Bedürfnissen und Regungen. Das Wickeln hört
auf; es beginnt die Kontrolle kindlicher Sexualität (Masturbationsverbot) und
die Erzeugung von Schuldgefühlen. Ein zentrales Thema wird der sofortige kindliche
Gehorsam.
(5.)
Sozialisierender Modus (seit dem späten 18. Jahrhundert)
Das Kind wird von den Eltern weniger kontrolliert, als
vielmehr auf den „rechten Weg gebracht“. Der Willen des Kindes wird nicht mehr
als Bedrohung empfunden, statt dessen wird das Kind trainiert und beeinflußt,
wobei die Eltern weitgehend die Zielvorgaben bestimmen.
Anhand dieser Charakterisierung von Kindheitsformen
können jetzt alle Autobiographen eingeteilt werden. Die Begründungen für die
Zuordnung derjenigen Autoren, die im vorliegenden Artikel nicht erwähnt sind,
wurden andernorts ausgeführt.[97]
Die folgende Tabelle und die anschließenden beiden Graphiken erlauben einen
Überblick:
Tabelle
2: Psychogenetischer Modus
und Persönlichkeitsstruktur der Autobiographen
Nr. |
Name |
Datum |
Konfes-sion |
Hinweis auf Schicht |
Schicht U=Unter- M=Mittel- O=Ober- schicht |
Psychogenetischer Modus der
Familie |
Persönlichkeitsstruktur |
1 |
Mechthild v. Magdeburg |
1207-1290 |
kath. |
Eltern: adlig |
O |
infantizid/sexualisiert |
Borderline |
2 |
Friedrich Sunder |
1254-1328 |
kath. |
? |
? |
infantizid/sexualisiert |
Borderline |
3 |
Gertrud v. Helfta |
1256-1302 |
kath. |
? |
? |
infantizid/sexualisiert |
Borderline |
4 |
Margaretha Ebner |
1291-1348 |
kath. |
Eltern: wohlhabende Bürger |
O |
infantizid/sexualisiert |
Borderline |
5 |
Heinrich Seuse |
1295-1366 |
kath. |
Vater: adlig |
O |
infantizid/sexualisiert |
Borderline |
6 |
Katharina Tucher |
† 1448 |
kath. |
Ehemann: reicher Kaufmann (?) |
O |
integrierter als die übrigen Mystiker |
narzißtisch |
7 |
Burkard Zink |
1396-1476 |
kath. |
Vater: Handwerker |
M |
Weggabe |
narzißtisch / archaisch
neurotisch |
8 |
Johann v. Soest |
1448-1506 |
kath. |
Vater: Handwerker |
M |
Weggabe |
narzißtisch |
9 |
Ludwig v. Diesbach |
1452-1527 |
kath. |
Eltern: adlig |
O |
Weggabe |
archaisch neurotisch |
10 |
Johannes Butzbach |
1477-1516 |
kath. |
Vater: Handwerker |
U (?) |
Weggabe |
narzißtische |
11 |
Matthäus Schwarz |
1497-1574 |
kath. |
Vater: reicher Kaufmann |
O |
Weggabe |
narzißtisch / archaisch
neurotisch |
12 |
Thomas Platter |
1499-1582 |
konvert. |
Eltern: Bergbauern |
U |
Weggabe |
archaisch neurotisch |
13 |
Hermann v. Weinsberg |
1518-1597 |
kath. |
Vater: Kaufmann |
M |
Intrusion/Sozialisation |
neurotisch |
14 |
Bartholomäus Sastrow |
1520-1603 |
konvert. |
Vater: Kaufmann |
M |
Ambivalenz |
narzißtisch / archaisch
neurotisch |
15 |
Felix Platter |
1536-1614 |
prot. |
Vater: Lehrer, Buchdrucker |
M |
Ambivalenz/Intrusion |
archaisch neurotisch |
16 |
Veit Konrad Schwarz |
1541-1587 |
kath. |
Vater: reicher Kaufmann |
O |
Ambivalenz |
? (archaisch-neurotisch) |
17 |
Andreas Ryff |
1550-1620 |
prot. |
Vater: Handwerker |
M |
Ambivalenz |
archaisch-neurotisch / neurotisch |
18 |
Augustin Güntzer |
1596-1656 |
prot. |
Vater: Handwerker |
M |
Ambivalenz/Intrusion |
narzißtisch |
19 |
Sigmund v. Birken |
1626-1681 |
prot. |
Vater: Pfarrer |
M |
Intrusion |
archaisch neurotisch /
neurotisch |
20 |
Johann Beer |
1655-1700 |
prot. |
Vater: Gastwirt |
U (?) |
Weggabe |
narzißtisch / archaisch
neurotisch |
Psycho-genetischer Modus = Mystiker = sonst. Katholiken = Konvertierte = Protestanten
Abbildung
1: Zeitliches Auftreten der
psychogenetischen Modi und Konfessionen in Deutschland (grau unterlegter
Bereich: entspricht den theoretischen Vorhersagen des psychogenetischen
Ansatzes)
Persönlich-keitsstruktur = Mystiker = sonst. Katholiken = Konvertierte = Protestanten
Abbildung 2: Zeitliches Auftreten der
Persönlichkeitsstrukturen
Die beiden Graphiken zeigen, daß in späteren Epochen tendenziell höhere
psychogenetische Modi zu finden sind (Abb. 1) bzw. daß Persönlichkeitsstrukturen
mit höherem Integrationsgrad auftauchen (Abb. 2). Somit ergibt sich eine
Evidenz dafür, daß sich Kindheit und Persönlichkeitsstrukturen im untersuchten
raumzeitlichen Kontext simultan wandeln und daß beide Aspekte koevolutieren.
Die Art dieses Wandels unter dem Aspekt des „Überich“ läßt sich genauer
herausarbeiten, wenn man einmal den psychogenetischen Ansatz von Lloyd deMause
und die Vorstellung vom Zivilisationsprozeß von Norbert Elias kontrastiert und
mit dem empirischen Ertrag des vorliegenden Artikels konfrontiert. DeMause behauptet:
„(...) anstatt die Geschichte als einen Sieg
der Moral, des Über-Ich, zu sehen, werden wir entdecken, warum sie in
Wirklichkeit ein Sieg von Lust und Vernunft ist, ein Sieg des Es und des Ich
über das Über-Ich.“[98]
„Freuds Vorstellung, daß sich die Zivilisation
durch »zunehmend höheren Triebverzicht« entwickelt, ist genau umgekehrt
richtig; Zivilisation entwickelt sich nur durch zunehmendes Akzeptieren der
Triebe von Kindern, wodurch es ihnen ermöglicht wird, ohne verkrampftes
Abwehrverhalten aufzuwachsen.“[99]
Elias übernimmt dagegen weitgehend Freuds Vorstellungen und geht davon
aus, daß im Laufe der Geschichte, die als Zivilisationsprozeß aufgefaßt wird,
der Fremdzwang internalisiert wird
und zu einem zunehmenden Selbstzwang
führt. Dieser geht nach Elias einher mit „größerer Affektkontrolle“ des
Einzelnen und verringert die „Spontaneität des Affekthandelns“.[100]
Die beiden Ansätze werden hier bewußt verkürzt und schlagwortartig reduziert,
folgendermaßen opponiert: DeMause behauptet eine im historischen Verlauf immer
bessere Integration von Überich-Strukturen bei gleichzeitiger Freisetzung von
mehr Ich-Autonomie; Elias geht dagegen von einer Verstärkung von
Überich-Strukturen zuungunsten der Triebbefriedigung aus. Elias’ Ansicht und
Interpretation seiner Foschungsergebnisse hängen u. a. mit seiner klassischen
Freud’schen Konzeption des Überichs zusammen. Elias übernimmt weitgehend die
kulturkritische bzw. -pessimistische Sicht Freuds; deMause weicht dagegen in
dieser Hinsicht von den Freud’schen Vorstellungen zu einem historischen Wandel
individual-psychologischer und kollektiv-psychologischer Strukturen ab - er behauptet
sogar die genau umgekehrte Richtung der Entwicklung psychischer Strukturen im
historischen Prozeß.
Die Frage danach, welche Vorstellung empirisch besser
stützbar ist, wäre anhand der Untersuchung größerer Zeiträume zu beantworten.
Aufgrund der hier vorgelegten Rekonstruktion lassen sich folgende Ausführungen
machen: Die Selbstkasteiungen der Mystiker können als das Wirken eines
archaischen, unbarmherzigen und unintegrierten Überichs verstanden werden, das
in regressiven bzw. dissoziierten Bewußtseinszuständen personhaft-halluzinativ
(etwa als Seuses „ungeheure höllische Person“) erlebt wird. Triebabfuhr im
Freud’schen Sinn kann nur erfolgen, wenn dieses unbarmherzige Überich
gleichzeitig versöhnt und zufriedengestellt werden kann. Die Genese dieser
Überich-Konfiguration steht, so wird hier vermutet, in unmittelbarem
Zusammenhang mit traumatischen Realerfahrungen, meist mit den eigenen Eltern.
Die Mystiker werden also nicht als Personen mit überbordender Es-Ausstattung
verstanden, die permanent ihre masochistischen Partialtriebe befriedigen,
sondern als traumatisierte Menschen, die um die Integration abgespaltener
Überich-Strukturen innerhalb unzähliger selbstbeschädigender Episoden ringen.
Innerhalb des Samples läßt sich folgende Tendenz
hinsichtlich der Frage nach Zu- oder Abnahme (bzw. besserer oder schlechterer
Integration) von Überich-Konfigurationen erkennen: Die Mystiker weisen - mit
einer Ausnahme - eine Borderline-Persönlichkeit auf, wobei das zugehörige
Überich archaisch, wenig integriert und grausam ist. Historisch später folgen
mit Soest und Butzbach narzißtische Persönlichkeiten, wobei insbesondere
extreme Kränkbarkeit charakteristisch ist. Im Unterschied zu den
Borderline-Persönlichkeiten der Mystiker zeigen sich hier weniger auto- und
mehr heteroaggressive Züge. Das zugehörige Überich ist immer noch grausam,
aber deutlich integrierter als das der Mystiker. Der unter Kastrationsangst
leidende Felix Platter kann als eine archaisch-neurotische Persönlichkeit
verstanden werden mit einem strengen, aber nicht verfolgenden Überich.
Weinsbergs Persönlichkeit weist als einzige geradezu moderne Züge auf, wie sich
u. a. an seiner individuell entwickelten Skepsis gegenüber der Existenz von
Hexen festmachen läßt.
Archaischere Überich-Formationen sind m. E. als
stärkere Selbstzwänge zu verstehen: Es handelt sich um „innere“ Kräfte, die das
Handeln und Erleben des Individuums massiv beeinflussen. Zur empirischen
Evidenz aufgrund des hier untersuchten Samples zum Zusammenhang von
Persönlichkeitsstruktur und Überich muß allerdings deutlich gesagt werden, daß
sie anhand einer einzigen Quellensorte - nämlich Autobiographien - gefunden
wurde und insbesondere die Mystiker wohl kaum als repräsentativ für die Subjekte
ihrer Zeit anzusehen sind.
Nimmt man die im vorliegenden Artikel verwendete sehr
grobe Orientierung hinsichtlich der Persönlichkeitsstrukturen als Hinweis auf
die Beschaffenheit des jeweiligen Überich, so ergibt sich eine Tendenz hin zu
einer zunehmend Ich-gerechteren Integration von Überich-Strukturen im
historischen Verlauf. Anders formuliert: Die Kinder erleben immer weniger
Deprivationen und Traumata; die Bildung von grausamen Überich-Vorläufern wird
gemildert bzw. unterbleibt. Die empathischeren Interaktionen von Eltern und
Kindern führen zu Ich-gerechterer Verhaltenssteuerung und zu weniger
Selbstzwang.
Es legt sich außerdem nahe, daß die Selbstzwänge aller hier untersuchten historischen
Subjekte massiv ausgeprägt sind und erheblich deutlicher zutage treten, als intuitiv in bezug auf heutige
Verhältnisse vermutet würde. Vielleicht weicht von dieser Aussage alleine
Weinsberg ab. Hinzuzufügen ist natürlich, daß dieses intuitive Urteil
problematisch ist und empirisch gestützte Evidenz einfordert. Jedenfalls
scheint deutlich zu werden, daß eine Hypothese, die eine Zunahme von
Überich-Strukturen im historischen Verlauf behauptet, nicht von der hier
vorgelegten empirischen Evidenz gestützt wird. Für die Hypothese einer Abnahme
ergibt sich wohl immerhin eine gewisse empirische Evidenz.
Man kann nun das Problem etwas umformulieren. Die hier
vorgelegte Evidenz spricht für eine Abnahme infantiler Traumen und eine zunehmende
elterliche Empathie einschließlich größerer Akzeptanz kindlicher Bedürfnisse.
Geht man ganz allgemein davon aus, daß härtere Überich-Strukturen durch ein
Mehr an massiven Versagungen, Traumen und Deprivationen in der Kindheit
entstehen, kann umgekehrt gesagt werden: Die konstatierbare Verbesserung der
affektiven Qualitäten der Eltern-Kind-Beziehungen erlaubt ceteris paribus eine bessere Integration von Überich-Strukturen und
eine umfangreichere Akzeptanz des kindlichen Trieblebens. Insofern wird die
deMause’sche Ansicht zu einem allgemeinen Trend der Kulturentwicklung
gestützt, während die Auffassungen von Elias in Zweifel zu ziehen sind. Die
theoretische Konstruktion von Elias weist den „inneren Widerspruch“ auf, daß
affektgeleitete Erwachsene keineswegs prädestiniert sind, die Gefühle ihrer
sozialen Umgebung, darunter die der eigenen Kinder, in besonderem Maße zu
akzeptieren. Da aber die von Elias zugegebenermaßen als asymmetrisch aufgefaßte
Eltern-Kind-Beziehung gerade die Eigenheit aufweist, daß das Affekthandeln der
Eltern auf Kosten des Kindes gehen
kann und im Falle von damit einhergehenden Traumen das Kind seine
Überich-Strukturen folgerichtig etablieren, aktivieren und später tradieren muß, folgt eine
Infragestellung der theoretischen Konstruktion der Elias’schen - und damit auch
der Freud’schen - Zivilisationstheorie: Beide Entwürfe sind nach der hier
vorgelegten Rekonstruktionsskizze logisch inkohärent.
Sozusagen als Kommentar zur Meta-Ebene der hier
ausgeführten Opponierung ist hinzuzufügen, daß trotz aller Unterschiede eine
innere Verwandtschaft zwischen den Ansätzen von Elias und deMause zu erkennen
ist. Die hier ausgeführte Opponierung basiert geradezu auf dieser
Verwandtschaft. Die sich widersprechenden Auffassungen innerhalb beider Ansätze
können möglicherweise begrifflich geklärt werden, wobei der Begriff des
Überichs bzw. des Selbstzwanges im Zentrum einer derartigen Klärung stehen muß.
Elias hat sich zum psychogenetischen Ansatz von
deMause in einem Artikel geäußert.[101]
Darin stützt er sehr weitgehend die beschreibende Evidenz von deMause. Beide
Forscher wenden sich gegen die Idealisierung des Gebildes Familie, und Elias
schreibt:
„Das anachronistische Beharren auf einer
idealisierenden Vorstellung von der Eltern-Kind-Beziehung, wie von
Familienbeziehungen überhaupt, ist eines der größten Hindernisse, das einer
sachgerechteren Bewältigung zeitgenössischer Familienprobleme im Wege steht.
(...) Wenn das Machtgefälle zwischen Eltern und Kindern geringer wird, - und
das ist der Entwicklungstrend unserer Zeit - dann ändert sich die Lage. Die die
Familie bildenden Menschen sind dann in geringerem Maße als früher an
vorgegebene Formen gebunden, sie sind in höherem Maße als früher darauf
angewiesen, durch ihre eigene Anstrengung, also absichtsvoller als früher,
einen modus vivendi miteinander auszuarbeiten.“[102]
Die auch von Elias konstatierten Veränderungen in den
Eltern-Kind-Beziehungen lassen sich mit dem Schlagwort „Evolution der Empathie“
zusammenfassen. Kindheit wandelt sich gerichtet, weil Eltern in ganz
erstaunlichem Ausmaß einen historischen Lernprozeß durchlaufen und die
Bedürfnisse ihrer Kinder in immer angemessenerer Weise verstehen und
befriedigen können. Die veränderte Kindheit bringt immer wieder historisch neue
Persönlichkeitsstrukturen hervor. Dieses historisch neue Personal hat neue
Wünsche und Ängste, neue Abwehrmechanismen und Glücksfähigkeiten und verändert
den historischen Prozeß. DeMause vermutet, daß die letztendliche Ursache dieses
Wandels darin besteht, daß Eltern versuchen, mit ihren Kindern ihre eigenen
Ängste aus der eigenen Kindheit durchzuarbeiten.[103]
Dadurch kommen sie, so deMause, ihren Kindern emotional einen Schritt näher und
diese können den nächsten Schritt bei der Begegnung mit der nächsten Generation
machen. Es kommt so gleichsam zu einer Art Akkumulation von immer zugewandteren
Fürsorgeerfahrungen im historischen Prozeß. Dieser Vorgang läßt sich als
Evolution elterlicher Empathie und damit als Evolution der Kindheit verstehen.
Dieser Evolution korreliert eine Evolution der Persönlichkeitsstrukturen, wobei
es zu einer Integration von Überich-Strukturen kommt.
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Die E-mail die Anschrift von dem Autor: Frenken@em.uni-frankfurt.de
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vom 14. bis 17. Jahrhundert: Psychohistorische Rekonstruktionen. 2 Bände.
(= Psychohistorische Forschungen, Band 1/1 u. 1/2). Kiel: Oetker-Voges;
(2000). Changes in German Parent-Child Relations from the Fourteenth to the
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Psychohistory, 28 (2), S. 150-172; (2000). Book Presently In Print:
Frenken, Ralph (2002). Kindheit und Mystik im Mittelalter. Frankfurt am
Main: Lang. 344 pages. ISBN: 3-631-38467-X.
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[1]Vgl. Frenken (1999)
vorwiegend zu den säkularen Autobiographien vom 15. bis 17. Jahrhundert und
(2001) zu mystischen Texten vom 13. bis 15. Jahrhundert.
[2]Vgl. hierzu etwa
Klaiber (1921), S. 1 ff.; Ulrich in: Westphal (1923), S. 15 ff.; Misch (1967),
Bd. 4/1, S. 98 ff.
[3]Vgl. Bihlmeyer
(1907), S. 135*.
[4]Vgl. Rein (1919), S.
337.
[5]Vgl. Freud (1923), S.
256 ff.
[6]Vgl. hierzu Laplanche
und Pontalis (1991), Stichworte „Überich“ und „Ichideal“.
[7]Vgl. hierzu etwa
Kernberg (1991), S. 55 f.; (1997 a), 58 ff.
[8]Vgl. Klein (1927), S.
8 ff; (1945), S. 107 ff; (1973), S. 157 ff.
[9]Vgl. Klein (1994), S.
139 f.
[10]Vgl. Kernberg (1991),
(1996), (1997 a u. b).
[11]Vgl. Kernberg (1996),
S. 396 ff.
[12]Vgl. Kernberg (1991),
S. 57.
[13]Vgl. Kernberg (1997
b). S. 42 ff.
[14]Vgl. Kernberg (1991);
Rohde-Dachser (1995).
[15]Vgl. Kernberg (1991),
S. 25 ff.; Rohde-Dachser (1995), S. 38 ff.
[16]Zu den
primärprozeßhaften Denkformen vgl. Kernberg (1991), S. 43 ff; zur
„Mini-Psychose“ vgl. Rohde-Dachser (1995), S. 51. Mini-Psychosen sind
kurzfristige Dekompensationen, die Reaktionen auf Streß darstellen. Sie sind
reversibel, werden ich-dyston erlebt und sind tendenziell flüchtig. Die
Patienten kommen selbständig aus diesen psychotischen Episoden heraus
(Spontanremission). Bestimmte Formen mystischen Erlebens sind phänomenal als
Mini-Psychose zu bezeichnen.
[17]Vgl. Kernberg (1996),
S. 36.
[18]Vgl. Kernberg (1991),
S. 41 ff.
[19]Vgl. Kernberg (1991),
S. 44 ff.
[20]Kernberg (1991), S.
55 f.; (1997 a), 58 ff.
[21]Vgl. Kernberg (1997
b), S. 43.
[22]Vgl. Kernberg (1997
b), S. 57 ff.
[23]Vgl. Rohde-Dachser
(1995), S. 83.
[24]Kernberg (1991), S.
47 f.
[25]Kernberg (1991), S.
58. Die englischsprachige Originalausgabe erschien 1975.
[26]Kernberg (1997 b), S.
42 ff.
[27]Vgl. Rohde-Dachser
(1994), S. 79 f. und (1995), S. 141.
[28]Vgl. hierzu etwa
Klaiber (1921), S. 1 ff.; Ulrich in: Westphal (1923), S. 15 ff.; Misch (1967),
Bd. 4/1, S. 98 ff. Für einen Überblick über das Phänomen der Mystik vgl. Dinzelbacher
(1993) und (1994).
[29]Vgl. Seuse (1907), S.
39 ff.; Seuse (1911), S. 33 ff. Seuse beschreibt derartige Praktiken vor allem
in den Kapiteln 15 bis 18. Die Selbstgeißelungen führt Seuse offensichtlich
häufig aus, u. a. auch an seinem Geburtstag (vgl. Seuse (1907), S. 44; Seuse
(1911), S. 37). Zu derartigen anniversary
reactions vgl. auch van der Hart et al. (1996).
[30]Vgl. Seuse (1907), S.
46 ff.; Seuse (1911), S. 39 ff.
[31]Vgl. Seuse (1907), S.
15; Seuse (1911), S. 14.
[32]Vgl. Seuse (1907), S.
15 f; Seuse (1911), S. 14 f. Lehmann ersetzt „zarter got“ bei Bihlmeyer (Seuse
(1907), S. 15 f) durch „großer Gott“ (Seuse (1911), S. 14); Hofmann ersetzt
durch „lieber Gott“ (Seuse (1966), S. 26). Beiden Übersetzern scheint der
körperbetonende, erotisch gefärbte Begriff „zart“ offenbar so anstößig, daß er
durch sinnentstellende Adjektive ausgetauscht wird. Die hier vorliegende
Sinnveränderungen wurde vom Verfasser der vorliegenden Arbeit rückgängig
gemacht; die Korrektur ist durch Kursivierung markiert.
[33]Vgl. Kafka (1969), S.
207-212.
[34]Die Interpretation
des fließenden Blutes als symbolisierte Milch basiert auf einer Bemerkung von
deMause (1989 a), S. 94, Fußnote 102. Seit der Antike war die Vorstellung
verbreitet, daß Milch umgewandeltes Blut sei (vgl. Peiper (1958), S. 20).
Mechthild von Magdeburg, eine Mystikerin des 13 Jahrhunderts, formuliert die
Gleichsetzung von Blut und Milch (sowie von Wunden und Brüsten) folgendermaßen:
„Da waren seine [Jesu] Wunden und ihre [Mariae] Brüste offen. Die Wunden gossen
und die Brüste flossen, und die Seele ward lebendig und gesund, da er in ihren
roten Mund den lauteren purpurnen Wein ergoß.“ (Mechthild von Magdeburg (1955),
S. 67).
[35]Vgl. Hirsch (1994),
S. 78-81. Hirsch sieht in den Phänomenen der Selbstbeschädigung (hier vor allem
Schmerzen und fließendes Blut) die Erschaffung eines mütterlichen Objektes im
Sinne eines pathologischen Übergangsojektes. Dabei wird der Körper als nicht
zum Selbst gehörig erlebt, er wird dadurch manipulierbar wie ein externes
Objekt und liefert dabei einen erleichterten Umgang mit inneren Spannungen und
Angst.
[36]Hirsch (1994), S. 80.
[37]Vgl. Seuse (1907), S.
61; Seuse (1911), S. 51.
[38]Vgl. Seuse (1907), S.
61; Seuse (1911), S. 52.
[39]Vgl. Seuse (1907), S.
61; Seuse (1911), S. 52.
[40]Patienten mit
Mißbrauchserfahrungen zeigen häufig die Tendenz, sich selbst für das Geschehen
verantwortlich zu machen. Shapiro sieht in den Phänomenen der
Selbstbeschädigung die Kulmination der Selbstanklage (vgl. Shapiro (1987), S.
46).
[41]Seuse gibt auch an,
eine Vision gehabt zu haben, in der er von der Jungfrau Maria gestillt wurde
(vgl. Seuse (1907), S. 50; Seuse (1911), S. 42 f.). Dieses Thema ist häufig in
der religösen Literatur der damaligen Zeit. Auch Seuses Denken kreiste um
Vereinigung mit einem extrem idealisierten Objekt, eingekleidet in infantile
Muster des Gestilltwerdens, des Geborgenseins und der Zuwendung.
[42]Vgl. Mechthild v. H.
(1880), S. 357 (Buch V, Kap. 29).
[43]Vgl. Mechthild v. H.
(1880), S. 185 f. (Buch II, Kap. 183).
[44]Christina I (1965),
S. 234.
[45]Vgl. Stone (1996), S.
131 ff.
[46]Bursten (1996), S.
79.
[47]Vgl. Kernberg (1991),
S. 262.
[48]Vgl. Kernberg (1991),
S. 263.
[49]Vgl. Kernberg (1991),
S. 303.
[50]Vgl. Kernberg (1991),
S. 291.
[51]Vgl. Kernberg (1975),
S. 898.
[52]Vgl. Frenken (1999),
S. 680 ff.
[53]Vgl. Soest (1811), S.
86; Heimann in: Soest (1986), S. 13.
[54]Vgl. Soest (1811), S.
86; zur Interpretation: Frenken (1999), S. 278.
[55]Vgl. Soest (1811), S.
87.
[56]Soest (1811), S. 91.
[57]Soest (1811), S. 103.
[58]Vgl. Soest (1811), S.
98.
[59]Vgl. Pfaff (1887), S.
248.
[60]Vgl. Soest (1811), S.
116.
[61]Vgl. Butzbach (1991),
S. 143.
[62]Vgl. Hunt (1970), S.
173. Hunt teilt beinahe die gleiche Szene für Ludwig den XIII. mit, der das
Bett mit seiner Amme teilte, wenn deren Mann abwesend war. Hunt stellt auch den
Zusammenhang zur späteren beeinträchtigten Sexualentwicklung Ludwigs her, die
von mehreren dokumentierten bzw. rekonstruierbaren traumatischen
Kindheitsthemen beeinflußt ist.
[63]Butzbach (1991), S.
137.
[64]Vgl. Butzbach (1991),
S. 145 ff.
[65]Zur Figur des Beanus bzw. des Bacchanten als fahrender Schüler, der in Begleitung kindlicher Schützen umherzieht und betteln läßt,
vgl. Spiegel (1888) u. (1904).
[66]Platter (1911)
bezeichnet diesen älteren Schüler als Bacchanten.
[67]Butzbach (1991), S.
159.
[68]Butzbach (1991), S.
221.
[69]Hansen (1901), S.
603.
[70]Vgl. Hansen (1901),
S. 602.
[71]Hansen (1901), S.
604.
[72]Zu Butzbachs
Moralisieren vgl. Frenken (1999), S. 340, zur idealisierten Vater-Imago vgl. S.
331, 344 ff. und 349.
[73]Vgl. F. Platter
(1976), S. 81.
[74]T. Platter (1890), S.
80; (das obere Zitat wurde ausgewählt nach Hinweis von Casimir Bumiller). Thomas
Platter sprach auch davon, daß der Sohn im Falle, daß er ohne beruflichen
Erfolg bliebe, ihn ins „Grab bringen werde“ (vgl. S. 17). Eine synoptische
Untersuchung aller Briefe von Thomas Platter steht noch aus.
[75]Vgl. hierzu die
ausführliche Interpretation in: Frenken (1999), S. 499 ff.
[76]F. Platter (1976), S.
111.
[77]F. Platter (1976), S.
111 f.
[78]Vgl. Bumiller (2000),
S. 313 ff. und Frenken (1999), S. 526 ff.
[79]Vgl. Ryff (1870), S.
53.
[80]Vgl. Ryff (1870), S.
71 ff.
[81]Ryff (1870), S. 48.
[82]Ryff (1870), S. 94.
[83]Vgl. Liber
iuventutis, S. 6, Rückseite; Transkription in: Frenken (1999 a), S. 418 f.
[84]Weinsberg (1886), S.
26.
[85]Weinsberg (1886), S.
37.
[86]Vgl. Frenken (1999),
S. 427 ff.
[87]Vgl. Weinsberg
(1886), S. 113.
[88]Weinsberg (1886), S.
114.
[89]Vgl. Weinsberg IV
(1898), S. 69.
[90]Vgl. F. Platter
(1976), S. 362.
[91]Vgl. Frenken (2002).
Dort habe ich weitere 12 Mystiker anhand biographischer Texte untersucht. Die
hier getroffene Auswahl stimmt mit dieser größeren Stichprobe in den typischen
Kennzeichen (insbesondere: Dissoziation und primitive Idealisierung auf
Borderline-Niveau) weitgehend überein.
[92]Vgl. Frenken (1999).
Von diesen 19 Werken wurden für das hier untersuchte Sample vier Texte ausgeschlossen,
deren Gehalt in bezug auf Kindheit relativ gering war.
[93]Vgl. hierzu genauer
Frenken (1999), S. 138 f. sowie eine Liste von etwa 50 Autobiographien des gleichen
Zeitraums, die keine oder nur sehr kurze Kindheitsdarstellungen enthalten (S.
771 ff.). Folgende Arbeiten und Sammelwerke wurden zur Zusammenstellung des
Samples an Autobiographien benutzt: Mahrholz (1919), Klaiber (1921), Westphal
(1923), Beyer-Fröhlich (1930), Schottenloher
(1938), Misch (1949 ff.), Wenzel (1980), Bernheiden (1988), Lumme (1996).
[94]Vgl. hierzu
ausführlicher: Frenken (1999), S. 142 f.
[95]Vgl. hierzu Frenken
(2002).
[96]DeMause (1989 a), S.
82. Die zeitlichen Angaben wurden revidiert und werden oben nach deMause
(1990), S. 13 f. sowie (1999), S. 661 ff. angegeben.
[97]Vgl. für säkulare
Autobiographen: Frenken (1999), für Mystikerinnen und Mystiker: Frenken (2002).
[98]DeMause (1989 b), S.
21.
[99]DeMause (1989 b), S.
93 bezieht sich hierbei wohl direkt auf Freuds Schrift Das Unbehagen in der Kultur (1930). Im englischen Essay von deMause
(1992), S. 137 lautet das Zitat: „Freud’s idea that civilization proceeds by
»progressively greater renunciation of instinct« was precisely backward;
civilisation proceeds only through progressively greater acceptance of the
drives of children, allowing them to mature without defensive distortion.“ Das
hierin enthaltene „Freud-Zitat“ lautet wohl im Original: „Drittens endlich, und
das scheint das Wichtigste, ist es unmöglich zu übersehen, in welchem Ausmaß
die Kultur auf Triebverzicht aufgebaut ist, wie sehr sie gerade die
Nichtbefriedigung (Unterdrückung, Verdrängung oder sonst etwas?) von mächtigen
Trieben zur Voraussetzung hat.“ (Freud (1930), S. 457 ff.) Freuds Aussagen
scheinen im Original komplizierter als in der Wiedergabe, wenngleich die
generelle Linie seiner Theorie der kulturellen Entwicklung durch deMause wohl
zutreffend charakterisiert ist.
[100]Vgl. Elias (1993), S.
LXI f.
[101]Vgl. Elias (1980), S.
11 ff.
[102]Elias (1980), S. 28.
[103]Vgl. deMause (1989
a), S. 14 ff.
EMaK www.emak.org ist eine Webseite für Erwachsene Misshandelt als Kinder. Über die Erfahrungen einer misshandelten Kindheit zu sprechen ist oftmals der erste Schritt auf einem langen Weg die unsichtbaren Wunden zu heilen.
-- Sieglinde W. Alexander