Die Evolution von Kindheit, Persönlichkeitsstrukturen und Überich in Deutschland - eine Skizze

 

Von Dr. Ralph Frenken

 

Einleitung

 

Im folgenden möchte ich einen Überblick - eine grobe Skizze - über die Evolution von Persönlichkeitsstrukturen und Überich geben, wie sie anhand der Untersuchung der 20 historisch ältesten deutschen Autobiographien vom 13. bis 17. Jahrhundert rekonstruiert werden kann. Diese Autobiographien wurden andernorts innerhalb von zwei detaillierten Untersuchungen zur Rekonstruktion der Eltern-Kind-Beziehungen verwendet.[1] Im vorliegenden Artikel liegt der Schwerpunkt etwas anders: Es sollen die Persönlichkeitsstrukturen der Autoren, insbesondere unter dem Aspekt des Über­ich, rekonstruiert werden. Hierzu werden allerdings nur n=6 Autobiographen des obengenannten Samples exemplarisch untersucht, die am Ende des Artikels in drei verschiedene Persönlichkeits-Kategorien eingeteilt werden. Es handelt sich hierbei um die Borderline-, die narzißtische und die neurotische Persönlichkeit.

Die ersten deutschsprachigen Autobiographien finden sich im Umfeld der Erlebnismystik.[2] Der Mystiker Heinrich Seuse (geb. um 1295) gilt gewöhnlich als der Verfasser der ersten deutschsprachigen Autobiographie, aber bereits vor Seuse haben einige Mystiker Autobiographien hinterlassen bzw. in ihre religiösen Schriften autobiographische Passagen eingeflochten.[3] Nach den Autobiographien aus dem mystischen Umfeld folgte - historisch gesehen - im 15. Jahrhundert die Entwicklung der säkularen deutschen Autobiographie. Burkard Zinks Lebensbeschreibung, die Teil einer größeren Chronik ist, gilt als erste moderne deutsche Autobiographie und enthält eine Darstellung seiner Kindheit und Jugend, der Lehrjahre und der Gründung einer eigenen Familie.[4]

Der vorliegende Artikel basiert auf der psychohistorischen Annahme, daß die Geschichte der Kindheit als Geschichte des Wandels der Eltern-Kind-Beziehungen zu betrachten ist. Demnach bringt ein derartig gedachter Wandel ständig historisch neue Persönlichkeiten mit neuen Überich-Konfigurationen hervor, die historisch neue Beziehungsformen, neue Traumata und neue psychische Verarbeitungsmechanismen entwickeln. Diese theoretischen Annahmen sollen einer empirischen Prüfung zugeführt werden.

Die hier auszuführende empirische Skizze umfaßt folgende Schritte: Zunächst wird das Konzept des Überich grob dargestellt und sein Zusammenhang mit Persönlichkeitsstrukturen und internalisierten Objektbeziehungen herausgestellt. In Anlehnung an Kernberg werden dann die drei genannten Persönlichkeitstypen prototypisch skizziert. Jede der drei Persönlichkeitstypen wird durch historische Vertreter aus dem Sample der Autobiographen kurz illustriert. Dabei werden die drei Persönlichkeitststrukturen in einer ordinalen Reihe geordnet hinsichtlich des Grades psychischer Integration. Das bedeutet, daß die am wenigsten integrierten Persönlichkeitsstrukturen bei den Borderline-Persönlichkeiten zu finden sind, die narzißtischen Persönlichkeiten demgegenüber integrierter sind und die Neurotiker den höchsten Grad an psychischer Integration aufweisen. Letztere zeigen also die reifsten Abwehrmechanismen, den höchsten Grad an Empathie und Einfühlungsfähigkeit und die reifsten zwischenmenschlichen Beziehungen.

Abschließend werden alle n=20 Autobiographen (aus Raumgründen ohne weitere Argumentation) in das Ordnungsschema eingeteilt. Dabei wird der historische Wandel der Persönlichkeitsstrukturen aufgezeigt.

 

Überich und internalisierte Objektbeziehungen

 

Freud führte das Konzept des Überich 1923 in seinem Aufsatz Das Ich und das Es ein. Er faßte das Überich als denjenigen Teil des Ich auf, der als kritische Instanz Handlungen, Gefühle, Phantasien und Gedanken des Subjekts beurteilt und bewertet. Das Überich entsteht demnach als eine Verinnerlichung elterlicher Gebote und Verbote. Die dabei ablaufenden Repräsentationsvorgänge - die Verwandlung von erlebten Objektbeziehungen in eine komplexe innere Instanz - hängen nach Freud mit dem Untergang des Ödipuskomplexes in seiner positiven und negativen Form zusammen.[5] Freud faßte dabei Überich und Ichideal noch weitgehend synonym. Gewöhnlich bezeichnet man heute mit „Überich“ die verbietende innere Instanz, während das Ichideal als Instanz gefaßt wird, die für das Subjekt eine Vorbildfunktion hat.[6]

Waren Freuds Überlegungen zur Genese des Überich noch primär triebtheoretisch bestimmt, wurde in späteren Theoriebildungen anderer Psychoanalytiker der Aspekt der Objektbeziehungen immer stärker betont. Unter „Objektbeziehung“ wird dabei eine spezifisch getönte affektive Beziehung zwischen einer bestimmten Objekt-Imago mit einer entsprechenden Selbst-Imago verstanden.[7] Eine frühe Objektbeziehungstheoretikerin war Melanie Klein. Sie geht davon aus, daß die Überich-Bildung erheblich früher beginnt, als Freud annahm, wobei sie zudem Frühstadien des Ödipuskomplexes bereits im ersten Lebensjahr postuliert. Frühe Objektbeziehungen, die von primitiven Angstformen bestimmt sind, bilden demnach die Grundlage für die Introjektion früher Überich-Aspekte. Klein beschreibt etwa, daß einjährige Kinder Angst davor haben, aufgefressen zu werden. Sie erklärt diese spezifische Bildung mit der Introjektion früher Angstobjekte („böser Objekte“), was einen primitiven beißenden (auch fressenden oder schneidenden) Überich-Vorläufer zur Folge hat, der sich zum Überich weiterentwickelt.[8] Ebenso werden frühe „gute Objekte“ introjiziert. „Gute“ und „böse“ Objekte werden durch Spaltungsvorgänge infolge der Unreife der kindlichen Psyche voneinander streng getrennt repräsentiert. Dieser frühe Abwehrvorgang soll das Ich schützen, führt aber gleichzeitig zu einer „phantastischen“ Übertreibung der affektiven Qualität der Objektbeziehung, sei sie ausgerichtet auf das gute oder das böse Objekt.[9]

Kernberg entwickelte ausgehend von Melanie Kleins Annahmen systematische Theorien zur Entwicklung von Persönlichkeitsorganisationen (z. T. einschließlich zugehöriger Überich-Formationen) unter Berücksichtigung der internalisierten Objektbeziehungen und ihrer Pathologien.[10] Die Charakteristika der jeweiligen Persönlichkeitsstrukturen werden dabei mit der Internalisierung spezifischer Objektbeziehungen in Verbindung gebracht. Nach Kernberg ist der Zusammenhang von Überich und Persönlichkeit (bzw. Persönlichkeitsstörung) komplex.[11] Die jeweilige Persönlichkeitsstruktur und der Grad der Integration von Überich-Strukturen ist demnach nicht unmittelbar funktional miteinander verknüpft. Das bedeutet, daß etwa beim Vergleich der eigentlich schwerer gestörten Borderline-Persönlichkeit mit der narzißtischen Persönlichkeit letztere in einigen Fällen die gravierendere Überich-Pathologie aufweisen kann. Gleichwohl formuliert Kernberg aber auch immer wieder, daß das Borderline-Syndrom verbunden ist mit dem Vorliegen primitiver „Überich-Vorläufer sadistischer Art“, die dazu führen, daß das Subjekt massive Projektionen auf äußere Objekte richtet und somit eine Welt voller „böser“ Objekte erlebt.[12] Kernberg geht somit davon aus, daß dieser Persönlichkeitstypus regelmäßig Überich-Störungen aufweist.

Aus psychoanalytischer Sicht bilden internalisierte Objektbeziehungen und zugehörige Phantasien die Grundlage der Persönlichkeitsstruktur des später erwachsenen Individuums. Weiter hängt die Qualität der internalisierten Objektbeziehungen von affektiv getönten Realerfahrungen des Kindes mit realen Beziehungspartnern - in der Regel den Eltern - ab. Der Grad der Abhängigkeit dieser internalisierten Objektbeziehungen von Realerfahrung mit Beziehungspersonen wird innerhalb der Psychoanalyse kontrovers diskutiert. Aus den jüngeren Darstellungen Kernbergs muß beispielsweise gefolgert werden, daß dieser Autor zunehmend die Rolle realer traumatischer Erfahrungen bei der Ausbildung schwerer Persönlichkeitsstörungen betont.[13]

 

Nach diesen klinischen Ausführungen, die sozusagen einen argumentativen Hintergrund liefern, soll im weiteren eine grobe theoretische Skizze erstellt werden, die es erlaubt, das vorhandene historische autobiographische Material in bezug auf die zugrundeliegenden Persönlichkeitsstrukturen einzuteilen. Hierzu werden drei Persönlichkeitsstrukturen im Sinne von Prototypen unterschieden. Dabei soll insbesondere die Qualität des Überichs erfaßt werden. Grundlegend ist dabei die Überlegung, daß Persönlichkeitsstrukturen auf internalisierten Objektbeziehungen ruhen, deren affektive Qualität maßgeblich davon beeinflußt wird, welche Realerfahrungen das Kind mit seinen Eltern macht. Ein historisch sich wandelnder Umgang mit dem Kind führt demnach dazu, daß Objekt-Imagines, Selbst-Imagines und die jeweils zugehörigen affektiven Tönungen sich historisch wandeln. Das bedeutet gleichermaßen, daß sich im historischen Verlauf die Persönlichkeitsstrukturen verändern. Das Überich als abstraktere bzw. übergeordnete Instanz innerhalb des psychischen Apparates muß einem solchen Wandel der Objektbeziehungen, sollte er sich denn nachweisen lassen, ebenfalls unterworfen sein.

Ich gehe in loser Anlehnung an Kernberg von drei unterscheidbaren Persönlichkeitsstrukturen aus: der Borderline-Persönlichkeit, der narzißtischen Persönlichkeit und der neurotischen Persönlichkeit. Das historische Material Autobiographien wird dabei daraufhin untersucht, inwiefern sich der jeweilige Autor als Vertreter einer dieser Persönlichkeitstypen verstehen läßt.

Da ein Schwerpunkt der vorliegenden Untersuchung auf der Rekonstruktion des Überich liegt, werden im empirisch-historischen Material insbesondere solche Szenen aufgesucht, die die Beschaffenheit dieser psychischen Instanz erkennen lassen. Von Interesse sind vor allem Szenen, die den Umgang des jeweiligen Autors mit folgenden Bereichen zeigen:

 

- lustvolle Ereignisse (Sexualität, Sicherheit, Befriedigung anderer Bedürfnisse)

- Aggressionen

- Objektbeziehungen

- Selbst und eigener Körper

- Schuld und Scham

- Kindheitstraumata (berichtete oder auch rekonstruierte)

 

Die Borderline-Persönlichkeit

 

Die meisten der deutschen Erlebnismystiker weisen Persönlichkeitsmerkmale auf, die heute als der Borderline-Persönlichkeit zugehörig anzusehen wären. Im folgenden wird das Borderline-Syndrom als Prototyp dargestellt.[14] Das Borderline-Syndrom wird als eine schwere Persönlichkeitsstörung auf der Grenze zwischen Neurose und Psychose aufgefaßt. Die entsprechende Psychodynamik ist von Dissoziationen gekennzeichnet, die das Erleben und das Verhalten maßgeblich beeinflussen. Auf einer deskriptiven Ebene sind Borderline-Persönlichkeiten durch folgende Merkmale zu charakterisieren: (a) chronische, frei flottierende Angst; (b) polysymptomatische Neurosen (Phobien, Zwangssymptome, multiple Konversionssymptome, dissoziative Reaktionen wie Dämmerzustände, Derealisation und Depersonalisation, Amnesien und Bewußtseinsstörungen, Hypochondrie, paranoides Erleben); (c) polymorph-perverse Sexualität; (d) Impulsneurosen mit Triebdurchbrüchen, einschließlich autoaggressivem Agieren; (e) Vorliegen intensiver Affekte (Wut und Depression) bei weitgehender Genußunfähigkeit (Anhedonie).[15] Hinzu kommen charakteristische Denkstörungen (formal und inhaltlich) sowie das Vorkommen von „Mini-Psychosen“.[16] Die genannten Merkmale müssen nicht dauernd vorliegen, sondern können fluktuieren. Wichtig ist außerdem, daß Borderline-Persönlichkeiten im Unterschied zu Psychotikern eine weitgehend erhaltene Fähigkeit zur Realitätsprüfung aufweisen.[17]

Auf einer strukturellen Ebene betont Kernberg unspezifische Anzeichen von sogenannter Ich-Schwäche, einen erleichterten Zugang zu primärprozeßhaftem Denken sowie spezifische Abwehrmechanismen, wobei er als wichtigsten Abwehrmechanismus die Spaltung hervorhebt.[18] Auf den Aspekt der Spaltung möchte ich kurz näher eingehen. Spaltung wird nach Kernberg von Borderline-Persönlichkeiten als aktiver Abwehrmechanismus eingesetzt und dient der Vermeidung der Bewußtwerdung bestimmter Vorstellungsrepräsentanzen, die intensiv mit Aggressionen kontaminiert sind. Die normale Entwicklung der Objektbeziehungen im Baby-Alter besteht in einer Integration der guten und bösen Imagines, wobei paranoid getönte Ängste durch reifere, depressiv getönte Formen ersetzt werden und allgemein ein realistischeres Bild der Objekt-Imagines entsteht. Aufgrund dieser Integration erlebt das Baby nun gleichzeitig aggressive und libidinöse Aspekte an einem einzigen Objekt. Das bedeutet, daß vor dieser Integration präambivalente Objekte erlebt werden und erst danach ambivalente. Die für das Erleben von Ambivalenz notwendige Legierung widersprüchlicher Erlebnisformen wird von späteren Borderline-Persönlichkeiten in der Kindheit und auch im Erwachsenenalter nicht geleistet. Statt dessen setzt das Kind aktiv die Spaltung ein und bringt unter Einsatz der sogenannten „primitiven Idealisierung“ die „total guten“ und „total bösen“ Objekt-Imagines hervor.[19] Die primitive Idealisierung stellt eine Phantasiestruktur dar, bei der einem Objekt magisch überhöhte Eigenschaften zugesprochen werden, wobei gleichzeitig Allmachtsphantasien operieren. Die primitiv idealisierten Objekte dienen zum Schutz gegen Aggressionen. Man kann diese Konfiguration als Vorläufer reiferer Idealisierungsformen ansehen, deren Ausbildung bei Borderline-Persönlichkeiten in der Kindheit nicht oder nur unzureichend erfolgt.

Innerhalb der Analyse von Objektbeziehungen spielen auch die emotionalen Qualitäten von Selbst-Imagines eine zentrale Rolle. Eine Objektbeziehung wird, wie bereits gesagt, als spezifisch getönte affektive Beziehung zwischen einer bestimmten Objekt-Imago mit einer entsprechenden Selbst-Imago aufgefaßt.[20] Auch die Entwicklung der Selbst-Imagines ist bei Borderline-Persönlichkeiten gestört; sie bleiben ebenfalls gespalten und unintegriert. Es bilden sich „total gute“ und „total böse“ Selbst-Imagines, wobei die überidealisierten Selbst-Imagines mit phantastischen Idealen von Macht und Vollkommenheit verknüpft sind. Diese pathologischen Idealselbst-Bildungen behindern die Entwicklung eines reifen Überichs. Es bleibt unreif und enthält sadistische und bedrohliche Überich-Vorläufer.

Die zentrale intrapsychische Bedingung für die Spaltungsprozesse stellt eine enorm gesteigerte Aggression dar. Die Objektbeziehungen von Borderline-Persönlichkeiten sind von Haß geprägt. Haß stellt die Umkehrung des Leidens dar.[21] Kaum kontrollierbare Aggression ist auch Ursache der Selbstbeschädigung, die typisch für die Borderline-Persönlichkeit ist.[22]

Während Allmachtsphantasien und primitiv idealisierte Objekt-Imagines bei der Borderline-Persönlichkeit ausgearbeitet werden, kommt es gleichzeitig zur Entwertung äußerer Objekte. Diese Entwertung erfolgt teilweise aufgrund der (phantasierten) Unfähigkeit realer Objekte zum Schutz gegen allmächtige „total böse“ Objekte, teilweise zur Verhinderung der Entwicklung dieser Objekte zu Verfolgern und teilweise aufgrund von Rachephantasien, weil das reale Objekt bestimmte Bedürfnisse nicht befriedigen kann. Borderline-Persönlichkeiten weisen zudem die Tendenz auf, ein äußeres Objekte abrupt von einer Bewertungskategorie in die andere zu verschieben, beispielsweise aufgrund einer minimalen Kränkung ein primitiv idealisiertes Objekt stark abzuwerten und zu attackieren (Schwarz-Weiß-Denken).[23] Damit hängen auch die kippenden Selbst- und Objektbeurteilungen zusammen, die ständiger Fluktuation unterliegen können. Ohnehin befindet sich das Erscheinungsbild des Borderline-Syndroms häufig in permanenter Veränderung. Gleichwohl bleiben die operierenden Spaltungsprozesse erkennbar. Kernberg faßt seine strukturellen Ausführungen zusammen:

 

„Infolge der ständigen Projektion »total böser« Selbst- und Objekt-Imagines sehen sich diese Patienten einer Welt voller gefährlicher, ja bedrohlicher Objekte gegenüber, gegen die »total gute« Selbst-Imagines als Abwehr eingesetzt und grandiose Idealselbst-Imagines aufgebaut werden.“[24]

 

Kernberg nannte bereits 1975 als eine der ätiologischen Bedingungen für die Entwicklung des Borderline-Syndroms neben konstitutionellen Besonderheiten das reale Erlebnis von schwerwiegenden Frustrationen, also traumatische Bedingungen.[25] Mittlerweile spricht er von „Fixierungen an das Trauma“ in bezug auf die Entwicklung pathologischer Objektbeziehungen und deren Repräsentanzen.[26] Rohde-Dachser nennt als eine wesentliche ätiologische Bedingung für die Entwicklung des Borderline-Syndroms den sexuellen Mißbrauch in der frühen Kindheit.[27] Diese ätiologische Bedingung und ihre Thematisierung spielt auch eine herausragende Rolle in den unbewußten Phantasien, die den erlebnismystischen Texten zugrunde liegen.

 

Heinrich Seuse (1295-1366)

 

Die Geschichte deutscher Autobiographien beginnt mit Texten der Erlebnismystikerinnen und -mystiker.[28] Darin stellen Mystiker ihr Erleben dar, schreiben über ihre Kindheit oder die Kindheit Jesu und ihren Umgang mit ihrem Körper. Man findet in diesen Texten die Darstellungen gravierender Störungen der Objektbeziehungen und der Persönlichkeitsentwicklung. Mystiker liefern zahllose Hinweise auf gravierendste Kindheitstraumen und zeigen ein archaisches, unintegriertes und exzessiv grausames Überich. Das Erleben von Erlebnismystikerinnen und -mystikern ist typischerweise durch folgende Erlebnisformen gekennzeichnet:

 

(1.) exzessive, selbst ausgeführte Beschädigung des eigenen Körpers;

(2.) halluzinatives Erleben religiös gedeuteter Objekte (Gott, Jesus, Maria, Jesuskinder, Teufel, Dämonen, Verstorbene);

(3.) andauernde Beschäftigung mit einem religiösen Phantasiesystem;

(4.) prekäre erwachsene Sexualität bei gleichzeitigem Vorliegen pädophiler Phantasien, die im Zusammenhang mit einem Jesuskind-Phantasma erlebt werden.

 

Fast alle Mystiker betrieben exzessive Selbstbeschädigung. Dazu gehörten Selbstgeißelungen, exzessives Fasten und Venien (Kniefälle). Diese Formen der Askese führten praktisch alle Mystiker aus. Hinzu kamen weitere teilweise idiosynkratische Formen wie Einschneiden von religiösen Symbolen in die Haut, Selbstverbrennungen, Selbstfesselungen, selbst beigebrachte Bisse sowie weitere Formen.

 

Heinrich Seuse war ein literarisch sehr bedeutender Erlebnismystiker. Er gehörte zu den aggressivsten Selbstbeschädigern und peinigte sich nach eigenen Angaben 20 Jahre lang. Seuse beschreibt detailliert Selbstbeschädigungen, Selbstgeißelungen und andere religiös moti­vierte Praktiken, wie etwa das Tragen von Nagelkreuzen und Nagelketten auf der Haut, Aderlaß, Selbstfesselung vor dem Schlafen mit einem System von Gürteln, Riemen und Schlössern.[29] Er aß und trank zeitweise gerade so viel, wie zum Überleben ausreichte, d. h. er wies anorektische Symptome auf.[30]

Seuse hatte starke Stimmungs­schwankungen. Vor einem Akt der Selbstdestruktion wurde, wie er formuliert, „unmäßiges Feuer in seine Seele gesandt, das sein Herz in göttlicher Liebe gar inbrünstig entflammte.“[31] Deshalb ging er in seine Zelle und wendete sich an Gott:

 

„»Ach, zarter Gott, könnte ich mir doch irgendein Liebeszeichen erdenken, das ein ewiges Liebeszeichen zwischen dir und mir wäre, eine Urkunde, daß ich dein und du meines Herzens ewige Liebe bist, ein Zeichen, das kein Vergessen je vertilgen könnte.« In diesem inbrünstigen Ernst warf er vorn sein Skapulier [= Schulterkleid] auf und entblößte seinen Busen und nahm einen Griffel in die Hand und sah sein Herz an und sprach: »Ach, gewaltiger Gott, nun gib mir heute Kraft und Macht, mein Begehren zu vollbringen, denn du mußt heute in den Grund meines Herzens geschmelzt werden.« Und fing an und stach mit dem Griffel in das Fleisch an der Stelle über dem Herzen, und stach also hin und her und auf und ab, bis er den Namen IHS genau auf sein Herz gezeichnet hatte. Von den scharfen Stichen strömte das Blut stark aus dem Fleisch und rann über den Leib herab in den Busen. Das war ihm in seiner feurigen Liebe ein so lieblicher Anblick, daß er der Schmerzen nicht viel achtete.“[32]

 

Das in religiöses Vokabular eingekleidete Geschehen kann verstanden werden als Wiederbelebung eines frühen Deprivationszustands, der mit gesteigerter Empfindung von Wünschen und Sehnsüchten einhergeht. Die Sehnsucht nach dem geliebten Objekt, hier als Gott bezeichnet, kann als Reminiszenz an die frühe Mutter aufgefaßt werden. Seuse will gegenseitige Liebe herstellen. Er beschreibt sich selbst als eine Mutter (Schulterkleid zur Seite schieben, die Brust frei machen, auf die eigene Brust blicken). Das Körperselbst wird abgespalten, als fremd erlebt und besetzt. Der Körper bzw. Körperteile fungieren als Übergangsob­jekte im Sinne Winnicotts.[33] Gleichzeitig werden phanta­sierte Objekte in halluzinativer Weise erlebt. Durch die Verletzungen, die er sich mit dem Griffel zufügt, erzeugt Seuse bei sich selbst eine blutende „mütterliche“ Brust, wobei das Blut die Milch symbolisiert.[34] Liebende und extrem aggressive Impulse werden gleichzeitig aktiviert und ausagiert und verweisen auf eine extreme emotionale Ambivalenz gegenüber dem primären Objekt.

Die beiden Erlebnisaspekte selbst zugefügte Schmerzen und fließendes Blut werden von Hirsch als eine regredierte Auseinandersetzung des Selbstbeschädigers mit Problemen der Empfindung der eigenen Körpergrenzen verstanden.[35] Hirsch nennt als ätiologisch entscheidende Bedingungen für die Genese einer selbstdestruktiven Symptomatik zwei Formen von Ereignissen in der Kindheit seiner Patienten: frühe Deprivation und traumatische Überstimulation, gewöhnlich in Form schwerwiegenden physischen und sexuellen Mißbrauchs.[36] Hirsch vermutet, daß der Teil des Körpers, der das Ziel autoaggressiven Verhaltens wird, ein schlechtes Objekt repräsentiert. Seuse beschädigt verschiedene Körperteile und -regionen, vor allem die Brust und den Rücken (bei Selbstgeißelungen). Ziel dieser Selbstbeschädigung ist eine Reduktion unerträglicher innerer Spannungen.

Der pathologische Umgang mit dem eigenen Körper als einem mütterlichen Übergangsobjekt basiert nach Hirsch auf der Spaltung zwischen Selbst und Körper-Selbst. Diese Spaltung rührt von den erwähnten traumatischen Kindheitserfahrungen her. Die Erfahrungen wurden so verarbeitet, daß das Körper-Selbst vom übrigen Selbst dissoziiert wurde, um die Konsistenz dieses Rests zu ermöglichen und vor weiterer Dissoziation zu bewahren. Der Erwachsene, der selbstdestruktives Verhalten ausführt, agiert Elemente der frühen traumatischen Mutter-Kind-Beziehung aus.

Folgende Szene soll Seuses archaisches Überich und den Umgang mit Bedürfnissen illustrieren: Seuse halluzinierte einmal Tag und Nacht Geister.[37] In dieser Zeit hatte er außerdem das Bedürfnis, Fleisch zu essen, nachdem er das jahrelang nicht mehr getan hatte. Er nahm Fleisch in den Mund und hatte sofort eine Halluzination: Vor ihm stand eine „ungeheure höllische Person“, die zu den halluzinierten Umherstehenden sagte: „Dieser Mönch hat einen Tod verschuldet und den will ich ihm antun!“[38] Die Umherstehenden ließen nicht zu, daß die ungeheure Person Seuse tötete. Seuse beschreibt die Konfrontation mit dieser Person folgendermaßen:

 

„Da sie [die Umherstehenden] ihr das nicht gestatten wollten, zog sie einen greulichen Bohrer heraus und sprach zu ihm: »Da ich dir nun anders nichts tun kann, so will ich deinen Leib doch mit diesem Bohrer peinigen und zum Munde einbohren, daß dir so weh geschehen soll, so groß deine Lust nach dem Fleischessen gewesen ist« und fuhr ihm dabei mit dem Bohrer nach dem Munde. Alsbald schwollen ihm die Kinnbacken und die Zähne und verschwoll ihm der Mund, daß er ihn nicht auftun und wohl drei Tage weder Fleisch noch andere Dinge essen konnte als nur soviel er durch die Zähne saugen konnte.“[39]

 

Wie bereits gesagt, stellt Hirsch zwei wesentliche Faktoren bei der Entwicklung selbstbeschädigenden Verhaltens heraus: frühe Deprivation und schweren körperlichen, meist sexuellen Mißbrauch. Die hier beschriebene Szene hat die Form eines sexuellen Mißbrauchs und gibt Anlaß zu der Vermutung, daß Seuse als Kind eine orale Vergewaltigung - vermutlich durch seinen Vater - erlebt hat, die er halluzinativ reinszenierte. Die Implikationen der Annahme eines derartigen frühen Traumas werden im weiteren herausgearbeitet.

Die „ungeheure höllische Person“ ist körperlich groß und aggressiv. Sie erscheint in dem Moment, als Seuse ein Lusterlebnis hat. Seuse hatte enorme Probleme mit Lusterlebnissen jeder Art. Hinzu kommt, daß Fleischessen mit der Tötung eines Lebewesens zu tun hat. Sowohl Seuses Lusterlebnis als auch dieses Wissen um den Tod eines Tieres stimulieren das Erscheinen, das Halluzinieren der ungeheuren höllischen Person.

Nachdem die Tötung Seuses durch die Umherstehenden - Externalisierungen gemäßigter, emotional zugewandter Persönlichkeitsanteile - verhindert wird, zieht die höllische Person einen Bohrer hervor. Der Bohrer symbolisiert den väterlichen Penis. Ein im engeren Sinne orales Bedürfnis wird hierbei auch an dem damit verbundenen Körperteil, dem Mund, bestraft. Dabei soll der Schmerz proportional der zuvor erlebten Lust sein. Seuse stellt sich in dieser Szene als jemand dar, der zumindest bis zu einem gewissen Grad die anschließende Peinigung in Form einer oralen Vergewaltigung verdient hat. Er war zum einen schuld am Tod eines Tieres, und er hatte zum anderen verpönte Lusterlebnisse.[40] Lust kann Seuse nur unter bestimmten Bedingungen ertragen, andernfalls wird seine empfindliche narzißtische Homöostase stark gestört. Seuse zeichnet gleichzeitig ein überaus ambivalentes Bild gegenüber oralen Befriedigungserlebnissen. Während die versorgenden Erlebnisse (mit der Mutter) als prototypische Befriedigungen reinszeniert werden,[41] führt die vermutete sexuelle Gewalterfahrung zu einer prototypischen Gewalt- und Kontrollverlusterfahrung und zu deren Reinszenierung. Die Szene illustriert, wie massiv die Welt Seuses von sadistischen Überich-Vorläufern geprägt ist. Ein Lusterlebnis stimuliert eine archaische Rächerfigur, der Seuse sich hilflos ausgeliefert fühlt.

Andere Mystiker zeigen ganz ähnliche Überich-Konfigurationen. Mechthild von Hackeborn (1241-1299) hörte einmal leichtfertige Lieder und weltliche Gesänge.[42] Daraufhin sei sie in Gottesliebe entflammt und habe Gott einen Ersatz bieten wollen für das Ärgernis dieser Lieder. Sie legte daher Glasscherben in ihr Bett und wälzte sich so lange darin, bis sie ihre Haut zerschunden hatte und vor Schmerzen fast bewegungsunfähig war. Auch hier zeigt sich, analog zu Seuses Erlebnis der „ungeheuren höllischen Person“, ein extrem prekärer Umgang mit Lust. Ein Es-Wunsch wird als äußerst gefährlich erlebt und aktiviert qua Überich einen Gegen-Impuls. Dem Überich wird eine Szene vorgeführt, wobei das abgespaltene Körper-Selbst leiden muß, um das grausame Überich zu versöhnen.

Derartige Inszenierungen waren in Klöstern weit verbreitet. Mechthild von Hackeborn preist beispielsweise den Schall der Selbstgeißelungen, der einen „gar süßen Ton“ habe. Sie schreibt: „Bei dem Laute dieses Schalls jubelten die Engel Beifall, die Dämonen, welche die Seele peinigten, entflohen weithin, die Seelen wurden von ihren Strafen erlöst, und die Ketten der Schuld gebrochen.“ [43] Die Versöhnung des Überich durch Selbstbestrafung ist zentral.

Eine selbst unter Mystikern brutale Attacke auf ihren Körper führte Christina von Retters (1269-1292) aus. Sie fühlte sich von ihrer „Unkeuschheit“ bedrängt, die ihre seelische und körperliche Reinheit gefährdete. Der Teufel bescherte ihr im Schlaf „böse Träume, böse Wollust und Versuchungen“. Christina stand daher ein Jahr lang jede Nacht auf und schlug sich mit einem Besen.[44] Um das „Feuer der Versuchung“ zu löschen, brannte sie sich die Vagina mehrfach mit Feuer aus. Eine der Selbstbeschädigungen führte sie aus, als sie einen Mann mit einer Frau sprechen hörte über „fleischliche und weltliche Dinge“  - also über Sexualität. Man sieht hier fast die gleiche Auslösungssituation wie bei Mechthild von Hackeborn. Derartige Beispiele sind in erlebnismystischen Texten Legion.

Der erste Typ von Überich, der uns anhand von historischen Selbstzeugnissen gegenübertritt ist eine archaische Konfiguration, wie sie heute bei der Borderline-Persönlichkeit vorzufinden ist.

 

Die narzißtische Persönlichkeit

 

Ähnlich wie der Begriff „Borderline-Persönlichkeit“ eine lange Geschichte aufweist, eine große Mannigfaltigkeit klinischer Erscheinungsbilder beschreibt und dabei stellenweise nicht ganz eindeutig ist, gilt auch für die Kategorie „narzißtische Persönlichkeit“, daß sie vielfältige Bilder bezeichnet.[45] Bursten führt aus, daß es „ganz verschiedene narzißtische Persönlichkeiten“ gibt.[46] Entsprechend bezeichnet dieser Terminus in der Literatur Persönlichkeiten mit stark verschiedenen Integrationsgraden (oder „Störungsgraden“). Ganz generell ist vorausszuschicken, daß im weiteren unter der „narzißtischen Persönlichkeit“ eine Struktur verstanden wird, die einen höheren psychischen Integrationsgrad als die Borderline-Persönlichkeit aufweist. Somit wird innerhalb des vorliegenden Artikels eine eingeschränkte Bedeutung der Kategorie verwendet. Die schärfer umrissenene Bedeutung ergibt sich aus der folgenden Beschreibung in Kombination mit den zugehörigen historischen Beispielen. Erneut wird hierbei eine lose Anlehnung an Kernbergs Arbeiten gesucht.

Narzißtische Persönlichkeiten imponieren durch eine charakteristische Störung ihres Selbstwertgefühls. Sie zeigen ein stark gesteigertes Maß an Selbstbezogenheit, wollen von anderen geliebt und bewundert werden, wobei das Bedürfnis nach Bestätigung maßlos wirkt. Gleichzeitig zeigen sie eine gering entwickelte Fähigkeit zu Einfühlung und eine gesteigerte Beschäftigung mit grandiosen Phantasien. Sie wirken oft rastlos und werden schnell gelangweilt, wenn sich äußere narzißtische Zufuhr verringert.

Im Umgang mit anderen spielt bei Narzißten Neid und Verachtung eine wichtige Rolle. Menschen werden von ihnen häufig danach beurteilt, welchen Nutzen sie jeweils erwarten lassen. Frühere Idole können nach Enttäuschungen - wirklichen oder phantasierten - extrem entwertet werden. Kernberg beschreibt diese Individuen als weitgehend unfähig zu tiefen Gefühlen und echter Zuneigung für andere. Insbesondere könnten sie das Gefühl der Abhängigkeit einem anderen gegenüber nicht entwickeln, da Narzißten zutiefst mißtrauisch sind.[47]

Nach Kernberg ähneln sich die Abwehrorganisationen von Borderline-Persönlichkeiten und narzißtischen Persönlichkeiten.[48] Es überwiegen bei beiden die sogenannten „primitiven Abwehrmechanismen“ wie Spaltung, Verleugnung, Allmachtsphantasien, primitive Idealisierung und Entwertung. Anders als typische Borderline-Persönlichkeiten verfügen narzißtische jedoch über eine relativ gute soziale Anpassung, eine gut funktionierende Impulskontrolle und bessere Sublimierungsfähigkeiten. Narzißtische Persönlichkeiten verfügen im Unterschied zu Borderline-Persönlichkeiten über ein integrierteres Selbst, wenngleich dieses Selbst pathologische Züge aufweist.[49] Kernberg beschreibt diesen pathologischen Anteil in Anlehnung an Kohut als „grandioses Selbst“, eine Bildung, die die narzißtische Persönlichkeit dazu bringt, Abhängigkeit von anderen extrem zu fürchten und daher zu vermeiden. Die Integration des Überich bei narzißtischen Persönlichkeiten ist unzureichend.[50] Auch ihr Überich enthält Überich-Vorläufer, insbesondere wohl überidealisierte.[51]

Neben den genannten Unterschieden in der Phänomenologie und den zugrundeliegenden psychischen Strukturen zwischen Borderline- und narzißtischen Persönlichkeiten soll an dieser Stelle festgehalten werden, daß eindeutige und deutlich zutage tretende Episoden von Selbstdestruktivität und körperlicher Selbstverletzung im vorliegenden Artikel zur Zuweisung eines historischen Autobiographen zur Borderline-Persönlichkeitsstruktur führen. Trotz der Unterscheidbarkeit beider Persönlichkeitsstrukturen ist allerdings auch zu betonen, daß es Individuen gibt, die beiden Kategorien zugewiesen werden können und daß es Übergänge zwischen beiden gibt.

 

Johann von Soest (1448-1506)

 

Nach den erlebnismystischen Autobiographien entstanden ab dem 15. Jahrhundert die ersten deutschen säkularen Autobiographien. Die frühesten säkularen Autobiographen erlebten ausnahmslos alle als Kind langdauernde Trennungen von ihren Eltern, gewöhnlich aufgrund einer elterlichen Weggabe.[52]

 

Eine geradezu typische narzißtische Persönlichkeit einschließlich des zugehörigen Überich wies Johann von Soest auf. Soest war ein mit diversen Begabungen ausgestatteter Mensch. Er war bereits als Kind professioneller Sänger und wurde später ein bedeutender Komponist. Er war außerdem Schriftsteller und Arzt.

Als Baby wurde Soest - vermutlich von seiner Mutter - im Gesicht mit heißem Öl überschüttet.[53] Die anscheinend bleibende Entstellung des Gesichts mit Verlust der Sehkraft eines Auges hat vermutlich eine ausgeprägte psychische Traumatisierung für das Kind nach sich gezogen, zumal Soest als künstlerisch interessierter Mensch ohnehin verstärkt ästhetische Aspekte sehr ernst nimmt. Eine bleibende Entstellung des Gesichts, einschließlich eines blinden Auges, stellt eine massive narzißtische Kränkung dar. Sie hat womöglich die Persönlichkeitsentwicklung stark beeinflußt. Zudem mag der spätere Arztberuf mit dem Trauma in Verbindung stehen.

Zumindest einer seiner beiden jüngeren Brüder wurde weggegeben.[54] Sein Vater starb, als Soest drei Jahre alt war. Der Herausgeber macht darauf aufmerksam, daß Soest sechs Zeilen gestrichen hat.[55] Darin erwähnte Soest, daß die Mutter wieder heiratete. Die Darstellung der Abläufe wurde also stark verändert: Der Stiefvater wurde mit keinem Wort erwähnt, außer in den gestrichenen Zeilen. Das bedeutet, daß Soest in seiner Autobiographie eine tatsächlich vorliegende Triade immer nur als Dyade beschrieb. Es drängt sich auf, daß Soest hier phantasmatisch die narzißtische Kränkung der Wiederverheiratung der Mutter leugnet.

Soest wies eine Form von Bindungslosigkeit auf, die bereits in seiner Kindheit nachzuweisen ist. Schon als 9jähriger versuchte er, von zu Hause bzw. von seiner Mutter und dem Stiefvater wegzulaufen und mit einem Gaukler wegzuziehen. Als 11jähriger gelang es ihm - angeblich gegen den Willen der Mutter - eine Anstellung am Hof eines Herzogs zu erlangen und damit die Trennung von der Herkunftsfamilie durchzusetzen. Er kommentierte diese Trennung: „Meine Mutter vergaß ich gänzlich“.[56]

Dieser Herzog wurde ein wichtiger Förderer von Soest als Sänger. Der Bruch mit diesem Herzog kam folgendermaßen zustande: Zwei englische Sänger kamen an den Hof und sangen besser als Soest. Daher wollte er diesen beiden unbedingt nachreisen, um deren Kunst zu erlernen. Er brach mit dem Herzog, der ihn nicht ziehen lassen wollte und ihn sogar mit der Hinrichtung bedrohte, sollte er doch den Hof verlassen. Soest verlor schließlich alle Privilegien und verließ den Hof, um seinem Wunsch nachzukommen.

Zentral für Soests Anstrengungen ist die Kränkung, die die Erfahrung, weniger gut als andere zu sein, bei ihm auslöste. Narzißtische Kränkungen fürchtete Soest am meisten. Er fühlte sich beim Singen der begabteren Engländer wie „ein Kind“.[57] Kind-Sein ist bei Soest extrem aversiv konnotiert.

Soests narzißtisch-gestörten Persönlichkeitszüge lassen sich an weiteren Stellen belegen. Er schmähte seine Lehrer, die er übertroffen hatte.[58] In seiner Autobiographie deutete er sein ausschweifendes Sexualleben bei Hofe an. Er saß wegen Streitigkeiten im Gefängnis und schrieb, daß er einen Gegner nach einem Streit einmal kastriert hatte - eine tatsächlich archaische Vergeltung für narzißtische Kränkungen.[59]

Gleichwohl gestaltete er große Teile seiner Autobiographie als eine Art Selbstanklage. Er beschreibt sich als Verlorener Sohn, d. h. als reuiges Kind, das nach Ausbruchsversuchen zu seiner Familie zurückkehren und um Vergebung bitten wollte. Auch seine Beschreibungen von Jugendlichen voller primitiver Vorwürfe gehören hierher. Man erkennt dabei die Abspaltung und Projektion eigener verpönter Selbstanteile, etwa wenn er seinem eigenen Sohn Leidenschaft, Ungeduld und Lügen vorwirft.[60] Soests aggressives Agieren deute ich daher auch weniger als Ausdruck eines sozusagen „fehlenden“ Überichs, sondern vielmehr als kippendes Geschehen, bei dem harte und grausame Überich-Formationen und entsprechende Abwehrvorgänge die Handlungen leiten.

 

Johannes Butzbach (1477-1516)

 

Der spätere Benediktinermönch Johannes Butzbach wurde als 9 Monate altes Baby zu seiner Tante weggegeben. Zu dieser Tante hatte er eine extrem ambivalente Beziehung. Bei ihrem Tod - als er 10 Jahre alt war - benennt er die Trauer zahlreicher Personen, nur nicht seine eigene. Die Beziehung der Tante zu ihrem Neffen war offensichtlich erotisiert: Die Tante holte den kleinen Butzbach in ihr Bett, wenn ihr Ehemann außer Haus war.[61] Klarerweise wird hier eine Positionsverschiebung innerhalb der ödipalen Triade dargestellt: Butzbach ersetzt in dieser Szene den Ehemann. Es werden zwar keinerlei manifest sexuellen Übergriffe beschrieben, aber die Szene stellt einen merkwürdigen Umgang der Tante mit ihrer Angst vor Einsamkeit dar. Auf Butzbach haben diese Szenen, die sich wiederholten, offensichtlich einen starken Eindruck gemacht.[62]

Butzbach fürchtete sexuelle Verführung. Obwohl er extreme Angst vor der Schule hatte - er wurde dort blutig geschlagen - weist er Eltern an, die Kinder in die Schule zu schicken, weil zu Hause Verführung drohe, beispielsweise von den „weniger gebildeten Angehörigen des väterlichen Haushaltes (...). Denn wer im zarten Kindesalter von ihnen Schlechtes hört und sieht, wird in seiner Seele drin verdorben.“[63]

Nach dem Tod der Tante kehrte er für etwa ein knappes Jahr zu seinen Eltern zurück, um dann erneut weggegeben zu werden. Der kurze Aufenthalt bei seinen Eltern war höchst problematisch. So wurde er einmal auf Veranlassung seiner Mutter wegen Schuleschwänzens verprügelt.[64] Direkt an die Darstellung des Vorfalles mit dem prügelnden Lehrer schildert Butzbach, wie er ganz aus der Familie weggegeben wurde. Der Vater wird hier zum ersten Mal als einzeln handelnde Person erwähnt. Ein Beanus nimmt Kontakt mit Butzbachs Vater auf. Ein Beanus ist ein älterer Jugendlicher, der mit Kindern, den sogenannten Schützen, herumzieht.[65] Vordergründig besteht dabei die Absicht, Schulen anzulaufen. Diese Absicht kann allerdings ein Vorwand sein, wie anhand der Autobiographien von Butzbach und Thomas Platter[66] klar belegt werden kann. Butzbachs Eltern liefern ihren 10jährigen Sohn einem ihnen unbekannten Jugendlichen auf Gedeih und Verderb aus. Bei diesem Beanus erlebt Butzbach eine fortgesetzte Kette von Mißhandlungen und Ausbeutung.

Aufschlußreich in bezug auf Butzbachs Persönlichkeit ist seine Form der Darstellung dieser Weggabe. Die Szene, in der er mit dem Beanus wegzieht, kommentiert er folgendermaßen:

 

„Da begann ich zum ersten Mal die Liebe des Sohnes zu seinen Eltern zu spüren, die ich ihnen nun nicht mehr zeigen konnte. Wahrlich, damals sah ich zum ersten Male ein, wie unfehlbar die Liebe der Eltern zu ihren Kindern ist, und ich lernte, wie traurig der Abschied eines Geliebten ist.“[67]

 

Die Verdrängung der Wahrnehmung seiner realen Beziehungen zu den Eltern und seiner extremen narzißtischen Kränkung durch diese elterliche Weggabe wird an dieser Stelle perfektioniert. Butzbach muß starke Reaktionsbildungen gegen seine aggressiven Impulse aufbieten, so überschießend, daß er diese Trennung zum Anlaß nimmt, das Eltern-Kind-Verhältnis zum idealen Liebesverhältnis zu erklären. Butzbach als erwachsenem Schreiber seiner Autobiographie war es nicht möglich, ein Wort der Kritik an seinen Eltern zu äußern bzw. sich von dem Geschehen als jetzt erwachsener Mensch zu distanzieren. Offene Kritik an den Bezugspersonen findet sich in der gesamten Autobiographie nicht.

Die Existenz idealisierter Elternbilder (insbesondere von Vater-Imagines) dient im Sinne der primitiven Idealisierung dem Schutz vor der Erkenntnis vernachlässigender Eltern. Diese abgespaltenen Elternbilder und insbesondere eine gehaßte primitive Mutter-Imago zeigen sich häufig bei Butzbach. In seiner Autobiographie wendet sich der erwachsene Butzbach ständig gegen (weltliche) Liebesbeziehungen und gegen Frauen ganz allgemein, die er häufig als Verführerinnen und Hexen betrachtet. Butzbach schreibt: „Oh, welche Dummheit ist da doch bei den Männern und - oh! - was für ein betrügerischer Spott und welche Finte bei den Frauen! Wen haben die Frauen nicht alles verspottet und hinters Licht geführt![68]

Butzbach war ein glühender Hexenhasser. In Gedichten feierte er den Hinrichtungstod einer angeblichen Hexe. Er beschreibt darin wie die „leichenblasse Zauberin“ den Abt des Klosters Laach mit einem Käse, in dem Eisenhut enthalten war, vergiftet habe. Diese Frau belegt Butzbach mit einer Reihe extrem abfälliger Bezeichnungen, darunter „giftmischende Zauberin“, „allerübelste Zauberin“, „bö­ses(s) Weib“, „schändliche entstellte Alte, verbrecherische Hure, geschwätzige Hündin, bissige Diebin“.[69] Die Frau wurde zur Erzwingung eines Geständnisses an den Brüsten gefoltert.[70] Das Thema der Brust spielte bereits in dem einleitenden Satz der Autobiographie eine wichtige Rolle. Dort schreibt Butzbach, daß er der Mutterbrust von der Tante entrissen wurde; im Gedicht ist die Rede von einer glühenden Zange, mit der die Brust der Frau traktiert wird. Später schreibt Butzbach, daß die Frau mit einer Zange „zerpflückt“ wurde. Was zunächst dem Partialobjekt Brust angetan wird, erfolgt dann am ganzen Objekt. Butzbachs Beschreibung stellt den Zusammenhang zwischen den phantasmatischen Elementen aus Kindheit und Erwachsenenleben her. Butzbach hebt hervor, wie sexuell gierig diese Frau angeblich war: „Ein Dämon war ihr Freier und Ehemann, der mit ihr schlief, sooft sie es wollte. Denn sie war überaus geil und unersätt­lich (...).“[71] Der Partner der Frau wird also nur blaß als Dämon bezeichnet; die Aktivität geht von der Frau aus. Über die Tante schreibt Butzbach, daß sie ihn zu sich ins Bett nahm, wenn der Ehe­mann nicht anwesend war. Die ödipale Struktur der sexuell aktiven Frau (der Tante) und ihres nur am Rande erwähnten und häufig abwesenden Ehemannes (des Onkels) findet sich in Umrissen auch in seiner Beschreibung der Hexe und ihrem Dämon. In der Geschichte mit der Tante im Bett fehlen allerdings gerade die Andeutungen manifest sexueller Aktivität der Tante bei gleichzeitiger Darstellung einer massiven Verschiebung innerhalb der ödipalen Triade.

Butzbach attackiert in seinem Hexen-Gedicht auf exzessive Weise ein verzerrt erscheinendes Phantasma von einer Frau. Diesem Hexen-Phantasma Butzbachs entsprechen die zuvor bereits erwähnten Aggressionen gegen Frauen und auch gegen prototypisch weibliche Körperteile, die mit unbewußten Aggressionen gegen die Mutter und gegen die Tante verknüpft sind.

Butzbachs Überich wirkt grausam. Man findet bei ihm kaum Passagen über Wohlbefinden, körperliche Ruhe und Entspannung, menschliche und gelebte Zuneigung etc. Wenn sich überhaupt Beziehungswünsche abzeichnen, dann in einer Sphäre, wie sie zu weit entfernten idealisierten Vorbildern möglich ist. Er bleibt damit näher an realen Beziehungen als die Mystiker, allerdings zeigt sich nirgendwo eine normale gelebte Beziehung zu einem Menschen. Seine mönchische Lebensweise und seine exzessiven - wenngleich literarisch sublimierten - Aggressionsentbindungen an verzerrten Phantasmen verweisen auf archaische Überich-Vorläufer.

Die narzißtischen Persönlichkeitszüge Butzbachs bestehen u. a. in seinem selbstgerechten Moralisieren, seiner Bewunderung für distanzierte exzessiv idealisierte Vaterfiguren und seiner deutlich werdenden Kränkung durch die angebliche Hexe, an der er seine narzißtische Wut erleben und geradezu ausleben kann.[72]

 

Die Überiche Soests, Butzbachs und weiterer Autoren, die als Kind Weggaben erlebten, sind erheblich integrierter als die der Mystiker. Die Konflikte sind weniger archaisch, Halluzinationen treten selten auf (wenngleich bei einigen in Streßphasen durchaus nachweisbar), Beziehungen zu realen Personen werden eher eingegangen. Bei Kränkungen zeigen sich massive Aggressionsentbindungen gegen externe Objekte.

 

Die neurotische Persönlichkeit

 

Die neurotische Persönlichkeitsstruktur soll hier nur kurz umrissen werden, wobei die Abhebung von den ersten beiden Formen zentral ist. Neurotische Persönlichkeiten verfügen über eine erheblich reifere Impulskontrolle und reifere Abwehrmechanismen. Diese basieren auf der Verdrängung, während (insbesondere) Borderline-Persönlichkeiten durch den massiven Einsatz der Spaltung gekennzeichnet sind. Neurotische Persönlichkeiten sind fähiger zur Einfühlung und zum Empfinden zugewandter Gefühle für andere, als die beiden zuvor skizzierten Persönlichkeitstypen.

 

Felix Platter (1536-1614)

 

Felix Platter wuchs in einer protestantischen Familie auf. In seiner Kindheit spielte Weggabe keine bzw. nur eine untergeordnete Rolle. Er lebte jedenfalls bis zu seinem 17. Lebensjahr in seiner Familie. Materiell ging es den Platters gut. Felix‘ Kindheit war gekennzeichnet durch die Betreuung durch eine Amme bzw. ein Kindermädchen, durch die äußerst strenge Beaufsichtigung durch den Vater, dessen Erzeugung von Schuldgefühlen, dessen schwere Schläge und Nicht-Dulden von jeglicher Form von Ungehorsam.

Als der etwa 10jährige Felix seinem Vater einmal ein Messerchen zerbrochen hatte, lebte er monatelang in massiven Schuldgefühlen.[73] Gleichzeitig getraute er sich nicht, das Ganze seinem Vater zu sagen. Wie massiv der Vater Schuldgefühle erzeugen konnte, zeigt sich in folgender Passage in einem Brief an den 19jährigen Felix, der in Montpellier Medizin studierte. Der Vater benutzt den Pesttod der Schwestern von Felix, um ihn zum Studieren anzutreiben:

 

„(...) oh, daß Gott wolle, daß ich das [Promotion und Heirat des Sohnes] erlebe mit samt deiner lieben Mutter, und daß dieses alles zur Ehre Gottes und zum Nutzen des Nächsten geschehe, sonst wollte ich, du wärest auch mit deinen anderen Schwesterlein längst vergraben.“

 

„Denn das sollst du wissen, wenn ich wüßte, daß du deine Zeit etlichermaßen solltest verschlampen, so väterlich ich es jetzt mit dir meine, so unbarmherzig würde ich gegen dich werden, und sollst wohl anfangen, daß dir nicht wohl käme, darum so hüte dich, ich vertraue dir wohl, und du freust uns.[74]

 

Der Vater erpreßte hier seinen Sohn regelrecht. Die Internalisierung derartiger Forderungen kennzeichnete Felix Platters Überich.

Felix Platter litt zeitlebens an einer „Ring-Phobie“: Er konnte keine Ringe ansehen oder anfassen, ohne massive Ekel-Reaktionen zu erleiden.[75] Man muß dies im Zusammenhang damit sehen, daß er ein berühmter Arzt war und zu den ersten gehörte, die Leichenöffnungen vornahmen. Die Genese des Ring-Ekels steht im Zusammenhang mit einer überbordenden Kastrationsangst bei sexuellen Regungen. Die Phobie basiert auf einer Verdichtung aus mehreren Kindheitsszenen: Platter wurde von einer Amme gefüttert, die einen verstümmelten Finger hatte. Seine Mutter schnitt ihm einmal in den Finger. Seine Schwester erschreckte ihn mit Ringen aus einer zerschnittenen Gurgel, und Felix erlebte als Kind, wie ein Sexualstraftäter enthauptet wurde. Die einzelnen Elemente dieser Szenen verdichtete er zur Phobie. Er vermied dadurch symbolisch das vaginale Ring-Objekt, um der gefürchteten Kastration zu entgehen.

Platter wies darüber hinaus diverse neurotische Konfliktlösungen auf. Er neigte zur Intellektualisierung, Affektisolierung und Verschiebung, wie im folgenden illustriert wird. Felix Platter wurde von seinem Vater geradezu bestimmt, ein Arzt zu werden.[76] Dadurch wurde er für seinen Vater ein emotional unglaublich wichtiger Delegierter im Sinne Stierlins. Als Problem tauchte dabei aber auf, daß Felix bereits als Kind zu Ekelreaktionen neigte. Er versuchte daher, zu einer Art psychischer Abhärtung zu gelangen. Er schreibt, daß er gerne bei Schlachtungen zugesehen und sich die inneren Organe genau betrachtet hat: „Deshalb habe ich mich sehr darauf gefreut, sooft man Schweine gemetzgt hatte und allzeit sehr um eine Erlaubnis gebeten, damit ich dem Metzger fleißig mochte zusehen, als er die inneren Glieder zerteilte und damit umging.“[77] Die artikulierte „Freude“ darf wohl als nachträgliche Einfügung verstanden werden, die auf massiven Reaktionsbildungen beruht. Nicht nur hier, sondern auch bei späteren Darstellungen etwa von Hinrichtungen hat er einen extrem kühlen Darstellungsstil, der seine Herkunft von gerade entgegengesetzten Gefühlen verrät. So ließ er einmal einen Vogel zur Ader, der daraufhin starb. Platter schreibt, daß er darüber lange bekümmert war, was seinen zunächst vorhandenen Konflikt zwischen Emotion und kalter Professionalität nochmals hervorhebt. Platter war zu dieser Zeit etwa 14 oder 15 Jahre alt.

Als Erwachsener konnte Platter bei der Erreichung persönlicher Ziele mitunter rücksichtslos agieren, etwa wenn er seine Stiefmutter dazu zwingen wollte, ihm die Kinder, die sie mit seinem Vater hatte, in Obhut zu geben. Felix Platter brachte so seine Halbgeschwister gleichsam in seinen Besitz. Er selbst blieb kinderlos und war evtl. - wie Casimir Bumiller und ich vermuten - sexuell impotent.[78]

Felix Platters Überich ist streng und weitgehend integriert, seine neurotischen Konflikte behindern sein außerfamiliäres Leben nur wenig, scheinen aber seine persönliche Beziehungsfähigkeit doch sehr weitgehend beeinflußt zu haben. Seine Ehe beispielsweise scheint unglücklich verlaufen zu sein.

Auffällig ist, daß dieser bedeutende Arzt sich nur äußerst wenig dem massiven Einfluß seines Vater entziehen konnte und zeitlebens ein gehorsamer Sohn blieb. Wenn sich Kritik am übermächtigen Vater findet, dann niemals direkt, sondern immer nur unterschwellig.

 

Andreas Ryff (1550-1603)

 

Andreas Ryff wuchs wie Platter in einer protestantischen Familie auf. Er wurde als Kind geschlagen und mit 10 Jahren für mehrere Jahre in die Lehre außer Haus gegeben. Es fand also eine Art später und milderer Weggabe statt. Auffällig sind bei Ryff seine Identifikation mit harten und prügelnden, immerhin aber zuverlässigen Vater-Figuren in den Ersatzfamilien. Ryff wurde mit etwa 12 Jahren für drei Jahre bei einem Gewürzkrämer untergebracht. Dieser Gewürzhändler schlug ihn im Jahr ca. 30 Mal mit der Rute blutig.[79] Die Ursache für die Prügelstrafen waren dabei geringe Vergehen, wie etwa ungenügendes Auswischen des Ladens. Die Bestrafungen wurden darüber hinaus ritualisiert. So schickte der Krämer die übrigen Angestellten in die Kirche, ließ Ryff aber zu Hause bleiben und vollzog dann seine Bestrafungsakte. Ryff beschwerte sich trotzdem nicht, weil ihm der Nutzen dieser Stelle derart wichtig ist, daß er die Bestrafungen in Kauf nahm. Er äußert sich positiv über die Frau des Krämers, die ihm gewogen war, und er lobt den Krämer für seine christliche Zucht. Es ist nicht klar, ob derartige Identifikationen mit dem Aggressor eher bei intrusiven oder bei ambivalenten Erziehungsformen anzutreffen sind. Es scheint sich abzuzeichnen, daß das Gefühl, zur Familie des Krämers zu gehören, so wichtig für Ryff war, daß er die sadistischen Züge des Mannes in Kauf nahm. Dies wiederum wirft ein Licht auf Ryffs Herkunftsfamilie.

Der Vater scheint Ryff eine gewisse Fürsorge entgegengebracht zu haben. Er wollte, daß sein Sohn später studiert und richtete ihm ein eigenes Zimmer ein, mit der Absicht, daß sein Sohn Interesse an Bildung entwickelt. Außerdem bekam Ryff Unterricht von Hilfslehrern. Ryff lehnte die Schule aber ab. Seine eigene Mutter erwähnt Ryff praktisch nie, was vermutlich auf gravierende Konflikte mit ihr hinweist.

Ryff scheint seine gesamte Autobiographie geschrieben zu haben, um seiner unglücklichen Liebe zu einer Frau, der Tochter seines Lehrherren, ein Denkmal zu setzen.[80] Er beschreibt auf 10 Druckseiten dieses Drama. Die Eheschließung beider wurde verhindert, weil beide Elternpaare jeweils von ihren Kindern verlangten, daß sie bei den Eltern wohnen blieben. Ryff wird bei der Beschreibung sehr deutlich und emotional. Das Beschreiben derartiger Gefühle in direktem Bezug zu einem Beziehungspartner - und nicht etwa gerichtet auf Phantasmen religiöser oder sonstiger Provenienz - sowie die deutliche Artikulation der Trauer ist sehr selten in den historischen Autobiographien. Sie verweist auf eine integrierte Persönlichkeit, die einen reifen Umgang mit derartigen Gefühlen erlaubte.

Ryff konnte sich zwar dem Einfluß seines Vater nicht entziehen und blieb gehorsam - genau wie Felix Platter. Immerhin wird er an manchen Stellen in der Kritik deutlicher. So schreibt er ganz klar: „In summa, alldieweil ich unter der Rute gewesen, habe ich nicht anzeigen dürfen, was ich gedacht habe und wohin mich das Licht der Natur gewiesen hat.“[81] Erziehung von kleinen Kindern wird hier als die Zeit „unter der Rute“ bezeichnet, was das Vorkommen von Schlägen in dieser speziellen Familie dokumentiert.

Später, nach der unglücklichen Liebe, lebte er wieder bei seinen Eltern und arbeitete im Geschäft des Vaters. Die Zusammenarbeit mit dem Vater war konfliktreich. Dieser versuchte, die Art der Arbeit und des Handels zu bestimmen, und Ryff bat ihn erfolglos, doch alleine entscheiden zu können. Ryff beschreibt seinen Wunsch nach Verlassen der Familie: „(...) und gedachte etliche Male hinwegzuziehen und mich in Herrendienst zu begeben, welches aber meinem Herz jederzeit widersprochen (...).“[82] Ryff blieb aber letztlich bei seinem Vater und zeitlebens ein gehorsamer Sohn. Ryffs Überich ähnelt dem Felix Platters, ist vielleicht sogar etwas integrierter.

 

Hermann von Weinsberg (1518-1597)

 

Weinsberg hatte die mit Abstand zugewandteste Kindheit in der Stichprobe. In der Familie Weinsbergs spielte Weggabe keine Rolle, im Gegenteil: Die Familie nahm sogar weitere Kinder aus der Verwandtschaft der mütterlichen Seite auf. Insbesondere Weinsbergs Beziehung zu seinem Vater trägt - als einzige der Stichprobe - moderne Züge. Dagegen gab es in der Mutter-Kind-Beziehung emotionale Probleme und archaische Züge. So entwöhnte etwa die Mutter ihren halbjährigen Sohn, indem sie ihre Brüste schwarz färbte und ihn dadurch erschreckte.[83] Immerhin war sein Vater ihm zugewandt. Den 18 Monate alten erkrankten Säugling tröstete der Vater, der dazu aufstehen mußte:. „(...) und wie mir oft gesagt wurde, war ich damals gar ungeduldig und lästig gewesen, daß mein Vater nachts oft hat aufstehen müssen, mir auf einem Becken gespielt und gepfiffen, daß ich schweigen sollte.“[84] Diese Szene ist in den historischen Autobiographien einmalig.

Beide Eltern schlugen ihr Kind, allerdings schlug die Mutter offensichtlich häufiger. Als sie den 6jährigen Weinsberg einmal sehr geschlagen hatte, rannte er zu seinem Vater und beklagte sich:

 

„(...) und wie ich ihm [dem Vater] mein Elend klagte, daß ich geschlagen worden war, hob er an, seine Kurzweil und Scherz mit mir zu treiben und sagte zu mir: »Wohlan, was rätst du dazu? Wollen wir deine Mutter aus dem Haus treiben, oder wollen wir oben auf dem Saal wohnen und deine Mutter unten im Haus wohnen lassen?« Darauf sagte ich: »Laßt sie unten wohnen und uns oben.« Und dies gefiel meinem Vater wohl, daß ich sie nicht vertreiben lassen wollte um eines bißchen Schlagens willen.“[85]

 

Das Mutter-Sohn-Verhältnis scheint wiederum konfliktreicher als das Vater-Sohn-Verhältnis. Weinsberg erwartet von seinem Vater Unterstützung und Hilfe, andernfalls würde er gar nicht erst versuchen, sein Verständnis zu erhalten. Die Szene zeigt weiter, daß Weinsberg sich nicht einfach mit den Handlungsweisen der Mutter identifizierte, sondern in der Lage war, sie zurückzuweisen. Die Aufrechterhaltung dieser Distanzierung wird durch die Reaktion des Vaters ermöglicht. Weinsberg wird dadurch nicht gezwungen, generell den Standpunkt der Eltern einzunehmen, sondern erlebt, daß es mehr als eine Sichtweise der Wirklichkeit gibt.

Weinsberg war sehr auf den Vater fixiert und relativ wenig autonom ihm gegenüber. Dies hängt auch damit zusammen, daß er seine Mutter als emotional unzuverlässig erlebte. Jedenfalls reagierte Weinsberg mit Depressionen und psychosomatischen Erkrankungen bei massiveren Konflikten mit dem Vater.[86] Trotzdem scheint mir seine Persönlichkeit und auch sein Überich als das integrierteste im Sample, wie ich im folgenden verdeutlichen will.

1536, als Weinsberg 18 Jahre alt war, glaubte seine Mutter, verhext zu sein.[87] Herz- und Brustschmerzen führte die Mutter auf eine vermeintliche Hexe zurück, eine Frau aus der Nachbarschaft. Auffällig ist die Tatsache, daß die Mutter sich an derjenigen Körperregion von einer Frau verzaubert fühlte, die für ihren Sohn bei der Entwöhnung erschreckend-schwarz gefärbt worden war: die Brust. Diese Körperregion ist in hochbesetzte frühkindliche Szenen involviert, deren Internalisierung unbewußte Strukturierungen nach sich zieht. Die Brustschmerzen der Mutter Weinsbergs können somit als Ausdruck für problematische Beziehungserlebnisse innerhalb der eigenen frühen Mutter-Kind-Interaktionen verstanden werden. Insofern wäre zu vermuten, daß Weinsbergs Mutter auf psychosomatische Weise möglicherweise eigene Traumata oder Deprivationen im Zusammenhang mit Stillerlebnissen reinszenierte. Die aversive Entwöhnung ihres Sohnes und die psychosomatischen Brustschmerzen, die in einen magischen Zusammenhang gestellt werden, wären somit Folgen der gleichen Ursachen in der Kindheit der Mutter. Die vermeintliche Hexe ist wohl als Repräsentantin ihrer frühen Mutter im Zusammenhang mit mißlingenden Objekterfahrungen anzusehen. Ihr Umgang mit der Nachbarin basierte demnach auf einer magisch-projektiven Konfliktverarbeitung, deren Wurzeln in problematischen Sozialisationserfahrungen in der eigenen Kindheit vermutet werden können.

Weinsberg und sein Vater wollten der Mutter diese „Phantasie“[88] ausreden. Die Mutter bestand aber darauf, ihre Schmerzen mit christlichen und magischen Methoden zu behandeln: Sie ließ Messen im Dom lesen und besorgte sich Knochen, die schon lange in der Erde vergraben waren, zu Heilzwecken. Vater und Sohn entwickelten dagegen die Theorie, daß die Brustschmerzen vom Spinnen kamen. Der Mutter teilten sie mit, sie solle die einseitige Belastung vermeiden. Sie folgte dem Rat, und daraufhin trat tatsächlich eine Besserung ein.

Weinsbergs Reaktion auf die Phantasien der Mutter entsprach seinen Besetzungen der beiden elterlichen Objekte. Es gelang ihm, seine vermutlich problematischen Früherfahrungen mit seiner Mutter dadurch zu kompensieren, daß er sich mit dem realistischeren und auch emotional zugewandteren Vater identifizierte. Tatsächlich läßt sich nicht eine einzige sinnvolle und zugewandte Interaktion mit der Mutter rekonstruieren, dagegen sprechen mehrere rekonstruierbare Interaktionen mit dem Vater schon im Kleinst­kindalter für eine (in heutigem Sinne!) weitgehend normale Zuwendung. Die Auswirkung dieser Zuwendung auf Weinsberg im Sinne der Entwicklung einer integrierten Persönlichkeit lassen sich im folgenden demonstrieren.

Weinsberg artikulierte selten echte eigenständige Stellungnahmen zu politischen oder weltanschaulichen Fragen. Zum Problem der Existenz von Hexen und Magie äußerte er sich allerdings recht dezidiert. Er nahm zwar keine ausdrückliche Position ein, etwa indem er schreibt, daß es Hexen nicht gibt. Aber er schreibt, daß es „böse Leute“ seien, die andere Personen der Zauberei beschuldigten und sie dadurch in Verruf brächten.[89] Er erkannte also die sozialen Ursachen und Folgen der Denunziationen. Er analysierte sogar, wie das Gerücht entsteht, daß jemand eine Hexe sei und wie sich die Evidenz lediglich durch den Verdacht sowie dessen ungeprüfte Weitergabe ergibt. Seine hier echt moderne Skepsis hing mit seiner Beziehung zum Vater und dessen Ansichten zusammen und entsprach einer Distanzierung von den magischen Auffassungen seiner Mutter. Zu den „bösen Leuten“, die den Verdacht ungeprüft aussprechen, wäre auch die Mutter zu zählen. Weinsberg trennte den Kommentar zum Hexenwahn (4. Band) von seiner Darstellung der Szene mit der sich verzaubert glaubenden Mutter (1. Band), der Zusammenhang ist aber deutlich. Vermutlich verwendete Weinsberg seine Identifikation mit dem Vater zur Verteidigung gegen ein für ihn unberechenbares mütterliches Objekt, das ihm weit größere Angst machte. Daher unterwarf er sich wohl auch den väterlichen Vorgaben so weitgehend.

 

Wegen dieser eigenständigen Distanzierung von den magischen Glaubenssystemen seiner Umwelt durch die ihm mögliche Identifikation mit einem zugewandten Vater möchte ich die Persönlichkeit Weinsbergs von der der anderen Autobiographen absetzen. Der erheblich gebildetere Felix Platter etwa war sehr dämonengläubig.[90] Weinsbergs Persönlichkeit soll daher als (im eigentlichen Sinne) neurotische verstanden werden; Felix Platters Persönlichkeit (und vergleichbarer Autobiographen) soll demgegenüber als archaisch-neurotisch bezeichnet werden. Der entscheidende Unterschied besteht darin, daß bei der archaisch-neurotischen Persönlichkeit infolge eines sehr strengen Überichs kaum Duldung für bewußte regressive Tendenzen besteht. Hinzu kommt, daß eine erheblich größere Tendenz zur sozialen Konformität besteht. Ryffs Persönlichkeit bildet m. E. einen Übergang zwischen den beiden hier gegenübergestellten Prototypen.

 

Der gleichzeitige Wandel von Kindheit, Persönlichkeitsstrukturen und Überich

 

Im folgenden wird diskutiert, was sich anhand des hier untersuchten Materials über den Wandel von Kindheit, Persönlichkeitsstrukturen und Überich aussagen läßt. Hierzu werden zunächst einige präzisierte Angaben zur Bildung des Samples gemacht. In bezug auf die Mystiker wurden sechs relativ eindeutig als Autobiobiographie bezeichenbaren Texte ausgewählt.[91] In bezug auf die säkularen Autobiographen wurden alle deutschsprachigen Autobiographien im Zeitabschnitt untersucht, die mehr als nur wenige Sätze über Kindheit enthalten.[92] Es ist nicht ganz klar, wieviele Autobiographien die genannten Kriterien erfüllen und trotzdem nicht in das Sample gelangt sind. Aufgrund der in den einschlägigen Sammelwerken immer wieder genannten Autobiographien ist jedenfalls zu schließen, daß der Großteil der existierenden Autobiographien untersucht wurde, die überhaupt Darstellungen der Kindheit enthalten.[93]

Es ist nun zu fragen, inwiefern die n=20 Autobiographen den Wandel bzw. die Evolution von Kindheit und Persönlichkeitsstrukturen in der damaligen Gesamtbevölkerung repräsentieren. Der hier gewählte Zugang zur Kindheit basiert auf Autobiographien. Das Herstellen von Texten war damals nur einer winzigen Bevölkerungsgruppe möglich. Diese extreme Selektion zwingt zur Vorsicht beim Schluß von der Stichprobe auf die Population. Für die säkularen Autobiographien gilt klarerweise, daß sie ein Bild der Kindheit ergeben, daß für die weitaus privilegiertesten Personen ihrer Zeit gilt. Diese Annahme ergibt sich dadurch, daß (a) jeder Autor einer Autobiographie seine Kindheit überlebt hatte; (b) lesen und schreiben konnte; (c) zur Zeit der Abfassung der Autobiographie einer gehobenen Schicht angehörte und über Ressourcen verfügte, eine Autobiographie zu schreiben und (d) keine schwerwiegenden seelischen oder geistigen Defekte hatte, die ihm eine Abfassung der Autobiographie unmöglich machte. Mit zumindest gesteigerter Wahrscheinlichkeit gilt in bezug auf den Autor, daß er (e) einer privilegierten Schicht angehörte; (f) ein Mann war; (g) über eine gute Bildung verfügt; (h) sich und sein Leben für besonders wichtig und mitteilenswert hielt und (i) den Wunsch hatte, eine Autobiographie zu verfassen.

Aus diesen Hypothesen läßt sich ableiten, daß der Autobiograph tendenziell gute materielle Kindheitsbedingungen hatte. Die Kindheit eines analphabetischen Bauernkindes wird kaum in Autobiographien zu finden sein. Die genannten Hypothesen ergeben eine Grobabschätzung dahingehend, daß die Personen im Sample tendenziell Repräsentanten einer im jeweiligen historischen Vergleich privilegierten Kindheit unter besseren materiellen Bedingungen sind. Kindheit dürfte somit durch die Vertreter des Samples nach „oben abzuschätzen“ sein, d. h. historische Kindheit war wohl kaum „besser“, als aufgrund der Autobiographien des Samples zu rekonstruieren ist.[94]

Diese Abschätzung nach oben läßt sich allerdings so klar für die mystischen Texte nicht belegen. Schon zu ihrer Zeit waren die Mystiker, insbesondere aber die Mystikerinnen, auffällig und marginalisiert. Andererseits gilt auch in bezug auf die Gruppe der Mystiker, daß sie großteils aus materiell privilegierten Schichten stammten.[95] Gleichwohl könnte es sich um eine Subgruppe von Schwersttraumatisierten mit relativ guten materiellen Voraussetzungen handeln. Ich vermute, daß eine große Anzahl der mittelalterlichen Zeitgenossen nicht unter derart problematischen Eltern-Kind-Beziehungen litten, wie ich sie für die Gruppe der Mystikerinnen und Mystiker rekonstruiert habe.

Festzuhalten ist allerdings, daß das hier zusammengestellte Sample repräsentativ für die schriftliche Darstellung individueller Kindheit und der eigenen Persönlichkeitsstruktur in Deutschland zwischen vom 13. bis 17. Jahrhundert ist. Ich vermute aber, daß die mystischen Texte von niedrigeren Psychoklassen, d. h. also von Angehörigen eines niedrigen psychogenetischen Modus, verfaßt wurden. Dadurch wird das rekonstruierbare Bild der Kindheit in dem entsprechenden Zeitabschnitt stark in Richtung des infantiziden (bzw. sexualisierten) Modus verschoben. Zur damaligen Zeit haben sicher religiöse Laien und Virtuosen gelebt, deren Kindheit auf höherem psychogenetischen Niveau angesiedelt war. Diese Vermutung bedarf allerdings der empirischen Überprüfung.

Anhand zahlreicher Stellen kann gezeigt werden, wie massiv Auswirkungen von Kindheitsdeterminanten in das Erwachsenenleben hineinragten. Interpretierend kann somit hinzugefügt werden, daß die herauspräparierten Ähnlichkeitsbeziehungen zwischen Kindheitsstrukturen und bestimmten Strukturen des erwachsenen Lebens auf einer kausalen Wirkung der niedergelegten Erinnerungsspuren beruhen. Die Untersuchung der Autobiographien erlaubt also die Stützung der Annahme, daß Kindheit und Persönlichkeitsstrukturen sich simultan wandeln. Innerhalb des untersuchten Zeitabschnitts läßt sich klar ein Wandel von Kindheit dokumentieren, der in der Tendenz eine deutliche Verbesserung der affektiven Qualität der Eltern-Kind-Beziehungen mit sich brachte. Gleichzeitig zeichnet sich ab, daß die Persönlichkeiten reifer werden. Zwar ist keine „1-zu-1-Zuordnung“ von Kindheit und Persönlichkeitsstruktur möglich, immerhin finden sich Zusammenhänge. Diese Zusammenhänge werden im folgenden nochmals anhand von Tabellen und Graphiken illustriert. Zunächst wird eine tabellarische Zusammenfassung zu den drei bzw. vier Persönlichkeitsstrukturen entworfen.

 

 

Tabelle 1: Evolution von Persönlichkeit und Überich

 

 

 

 

Borderline-Persönlichkeitsorganisation

 

neurotische Persönlichkeitsorganisation

 

 

Borderline-Persön­lichkeit

narzißtische Per­sönlichkeit

archaisch-neuro­tische Persönlichkeit

neurotische Persönlichkeit

Überich-Beschaffenheit

abgespaltene Über­ich-Vorläufer mit sadistischer Qualität; geringe Integration

integrierter als bei den Mystikern, aber trotzdem hart und grausam

 

streng; kaum Dul­dung bewußt re­gres­siver Aspek­te

 

weniger streng mit Duldung bewußt re­gressiver Aspek­te

 

vorherrschende Abwehrmechanis­men

exzessive Spaltung, Dissoziation, pri­mitive Idealisierung, projektive Iden­tifikation

Spaltung und Pro­jektion

Verdrängung

Verdrängung

Folgen für die Person

Selbstbeschädigung und Autoaggression, Impulsdurchbrüche, extreme Ab­lehnung von Sexu­alität, Scham- und Schuldgefühle dominant, psychotische Episoden häufig, Masochismus dominiert, De­personalisation, De­realisation

Heteroaggression (meist) ausgeprägter als Autoaggression, psychotische Einsprengsel (aber selten), tendenziell sadistische Tendenzen; z. T. psy­cho­somatische Ver­arbeitungsmodi

 

neurotische Abwehrformationen; keine psychotischen Episoden; sozial äußerst kon­form

 

neurotische Abwehrformationen; keine psychotischen Einsprengsel; sozial weniger kon­form

 

Kennzeichen der Kindheit

Deprivation und sexueller Mißbrauch; infantizid-sexualisierter Modus

häufig: Weggabe-Modus

 

verschiedene psy­cho­genetische Modi, inbesondere ambivalenter Modus

intrusiv-sozialisato­rischer Modus

zentrale Angst­phantasie

Angst vor Vernich­tung und totalem Objekt-Verlust

häufig: Angst vor Kränkung und Erniedrigung

Kastrationsangst im engeren Sinne

Kastrationsangst im engeren Sinne

Auftreten

13. Jhdt. und früher

ab spätem 14. Jhdt.

ab Mitte des 15. Jhdts.

ab frühem 16. Jhdt.

typischer Vertreter

Seuse

Soest

F. Platter

Weinsberg (einziger Vertreter)

 

 

Im folgenden wird die Persönlichkeitsstruktur mit dem sogenannten psychogenetischen Modus im Sinne von deMause in Verbindung gebracht. Dieser Modus erlaubt eine Kurzbeschreibung der Eltern-Kind-Beziehungen unter Berücksichtigung der affektiven Qualität dieser Beziehungen. Dabei betont deMause die realen Beziehungserfahrungen, die Kinder mit ihrem Eltern erlebten. Er geht dabei sozusagen nicht von der phantasmatischen Seite, sondern von den Realerlebnissen ausgehend an die Beschreibung historischer Eltern-Kind-Beziehung heran. Er entwickelte hierzu ein grobes Schema der Evolution der Eltern-Kind-Beziehungen im Westen seit der Antike bis heute. Das von deMause vorgeschlagene Periodisierungsschema enthält eine Kurzcharakteristik des jeweiligen Beziehungsmodus und die Angabe, wann der „psychogenetisch jeweils fortgeschrittenste Teil der Bevölkerung in den fortgeschrittensten Ländern“ zu einem neuen Modus der Eltern-Kind-Beziehung überging.[96] Diese sechs Beziehungsformen werden im folgenden skizziert:

 

(1.) Infantizider Modus (seit prähistorischer Zeit)

Ein großer Teil der Kinder wird von den Eltern getötet; gleichzeitig ist die Beziehung der Eltern zu den überlebenden Kindern vernachlässigend und sexualisiert. Der Modus wurde als „infantizid“ bezeichnet, weil die überlebenden Kindern von der Tötung ihrer Geschwister wissen und sie fühlen, daß ihr persönliches Leben für ihre Betreuungspersonen nicht wichtig ist.

 

(2.) Weggabe-Modus (seit dem 4. Jahrhundert)

Nach deMause waren die Christen die erste Gruppe, die versuchten, den Infantizid zu beenden. Statt dessen gaben die Eltern ihre Kinder weg zu Säugammen, Klöster und andere Haushalte, wo Kinder als Diener eingesetzt wurden. Der sexuelle Gebrauch verringert sich, das Schlagen bleibt üblich.

 

(3.) Ambivalenter Modus (seit dem 12. Jahrhundert)

Zentral wird die Eigenheit, daß das Kind abwechselnd als gute und böse Figur erlebt wird. Der Terminus „Ambivalenz“ wird hier in einem spezielleren Sinn als üblich verwandt und bezeichnet das Oszillieren der Eltern zwischen gespaltenen, guten und bösen Phantasmen vom Kind. Die Eltern weisen handlungsleitende Phantasien von der Formung des kindlichen Körpers (durch Wickeln und Pressen) auf. Ganz allgemein spielt der kindliche Körper eine maßgebliche Rolle bei der Eltern-Kind-Beziehung im Rahmen dieses Modus.

 

(4.) Intrusiver Modus (seit dem späten 16. Jahrhundert)

Das Kind wird weniger körperlich als vielmehr psychisch kontrolliert. Es erfolgt eine permanente Auseinandersetzung mit dem kindlichen Willen, den kindlichen Bedürfnissen und Regungen. Das Wickeln hört auf; es beginnt die Kontrolle kindlicher Sexualität (Masturbationsverbot) und die Erzeugung von Schuldgefühlen. Ein zentrales Thema wird der sofortige kindliche Gehorsam.

 

(5.) Sozialisierender Modus (seit dem späten 18. Jahrhundert)

Das Kind wird von den Eltern weniger kontrolliert, als vielmehr auf den „rechten Weg gebracht“. Der Willen des Kindes wird nicht mehr als Bedrohung empfunden, statt dessen wird das Kind trainiert und beeinflußt, wobei die Eltern weitgehend die Zielvorgaben bestimmen.

 

Anhand dieser Charakterisierung von Kindheitsformen können jetzt alle Autobiographen eingeteilt werden. Die Begründungen für die Zuordnung derjenigen Autoren, die im vorliegenden Artikel nicht erwähnt sind, wurden andernorts ausgeführt.[97] Die folgende Tabelle und die anschließenden beiden Graphiken erlauben einen Überblick:

 


Tabelle 2: Psychogenetischer Modus und Persönlichkeitsstruktur der Autobiographen

 

Nr.

Name

Datum

Konfes-sion

Hinweis auf Schicht

Schicht

U=Unter-

M=Mittel-

O=Ober-

      schicht

Psychogenetischer Modus der Familie

Persönlichkeitsstruktur

1

Mechthild v. Magdeburg

1207-1290

kath.

Eltern: adlig

O

infantizid/sexualisiert

Borderline

2

Friedrich Sunder

1254-1328

kath.

?

?

infantizid/sexualisiert

Borderline

3

Gertrud v. Helfta

1256-1302

kath.

?

?

infantizid/sexualisiert

Borderline

4

Margaretha Ebner

1291-1348

kath.

Eltern: wohlhabende Bürger

O

infantizid/sexualisiert

Borderline

5

Heinrich Seuse

1295-1366

kath.

Vater: adlig

O

infantizid/sexualisiert

Borderline

6

Katharina Tucher

† 1448

kath.

Ehemann: reicher Kaufmann (?)

O

integrierter als die übrigen Mystiker

narzißtisch

7

Burkard Zink

1396-1476

kath.

Vater: Handwerker

M

Weggabe

narzißtisch / archaisch neurotisch

8

Johann v. Soest

1448-1506

kath.

Vater: Handwerker

M

Weggabe

narzißtisch

9

Ludwig v. Diesbach

1452-1527

kath.

Eltern: adlig

O

Weggabe

archaisch neurotisch

10

Johannes Butzbach

1477-1516

kath.

Vater: Handwerker

U (?)

Weggabe

narzißtische

11

Matthäus Schwarz

1497-1574

kath.

Vater: reicher Kaufmann

O

Weggabe

narzißtisch / archaisch neurotisch

12

Thomas Platter

1499-1582

konvert.

Eltern: Bergbauern

U

Weggabe

archaisch neurotisch

13

Hermann v. Weinsberg

1518-1597

kath.

Vater: Kaufmann

M

Intrusion/Sozialisation

neurotisch

14

Bartholomäus Sastrow

1520-1603

konvert.

Vater: Kaufmann

M

Ambivalenz

narzißtisch / archaisch neurotisch

15

Felix Platter

1536-1614

prot.

Vater: Lehrer, Buchdrucker

M

Ambivalenz/Intrusion

archaisch neurotisch

16

Veit Konrad Schwarz

1541-1587

kath.

Vater: reicher Kaufmann

O

Ambivalenz

? (archaisch-neurotisch)

17

Andreas Ryff

1550-1620

prot.

Vater: Handwerker

M

Ambivalenz

archaisch-neurotisch / neurotisch

18

Augustin Güntzer

1596-1656

prot.

Vater: Handwerker

M

Ambivalenz/Intrusion

narzißtisch

19

Sigmund v. Birken

1626-1681

prot.

Vater: Pfarrer

M

Intrusion

archaisch neurotisch / neurotisch

20

Johann Beer

1655-1700

prot.

Vater: Gastwirt

U (?)

Weggabe

narzißtisch / archaisch neurotisch

               

Psycho-genetischer

Modus

 

= Mystiker

 

= sonst. Katholiken

 

= Konvertierte

 

= Protestanten

 
                                                                                                                                                 

 

 

 

 


 

 

 

 

 


 

 

 

 

 

 


Abbildung 1: Zeitliches Auftreten der psychogenetischen Modi und Konfessionen in Deutschland (grau unterlegter Bereich: entspricht den theoretischen Vorhersagen des psychogenetischen Ansatzes)

 


               

Persönlich-keitsstruktur

 

= Mystiker

 

= sonst. Katholiken

 

= Konvertierte

 

= Protestanten

 
                                                                                                                                                 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 


Abbildung 2: Zeitliches Auftreten der Persönlichkeitsstrukturen

 


Die beiden Graphiken zeigen, daß in späteren Epochen tendenziell höhere psychogenetische Modi zu finden sind (Abb. 1) bzw. daß Persönlichkeitsstrukturen mit höherem Integrationsgrad auftauchen (Abb. 2). Somit ergibt sich eine Evidenz dafür, daß sich Kindheit und Persönlichkeitsstrukturen im untersuchten raumzeitlichen Kontext simultan wandeln und daß beide Aspekte koevolutieren. Die Art dieses Wandels unter dem Aspekt des „Überich“ läßt sich genauer herausarbeiten, wenn man einmal den psychogenetischen Ansatz von Lloyd deMause und die Vorstellung vom Zivilisationsprozeß von Norbert Elias kontrastiert und mit dem empirischen Ertrag des vorliegenden Artikels konfrontiert. DeMause behauptet:

 

„(...) anstatt die Geschichte als einen Sieg der Moral, des Über-Ich, zu sehen, werden wir entdecken, warum sie in Wirklichkeit ein Sieg von Lust und Vernunft ist, ein Sieg des Es und des Ich über das Über-Ich.“[98]

 

„Freuds Vorstellung, daß sich die Zivilisation durch »zunehmend höheren Triebverzicht« entwickelt, ist genau umgekehrt richtig; Zivilisation entwickelt sich nur durch zunehmendes Akzeptieren der Triebe von Kindern, wodurch es ihnen ermöglicht wird, ohne verkrampftes Abwehrverhalten aufzuwachsen.“[99]

 

Elias übernimmt dagegen weitgehend Freuds Vorstellungen und geht davon aus, daß im Laufe der Geschichte, die als Zivilisationsprozeß aufgefaßt wird, der Fremdzwang internalisiert wird und zu einem zunehmenden Selbstzwang führt. Dieser geht nach Elias einher mit „größerer Affektkontrolle“ des Einzelnen und verringert die „Spontaneität des Affekthandelns“.[100] Die beiden Ansätze werden hier bewußt verkürzt und schlagwortartig reduziert, folgendermaßen opponiert: DeMause behauptet eine im historischen Verlauf immer bessere Integration von Überich-Strukturen bei gleichzeitiger Freisetzung von mehr Ich-Autonomie; Elias geht dagegen von einer Verstärkung von Überich-Strukturen zuungunsten der Triebbefriedigung aus. Elias’ Ansicht und Interpretation seiner Foschungsergebnisse hängen u. a. mit seiner klassischen Freud’schen Konzeption des Überichs zusammen. Elias übernimmt weitgehend die kulturkritische bzw. -pessimistische Sicht Freuds; deMause weicht dagegen in dieser Hinsicht von den Freud’schen Vorstellungen zu einem historischen Wandel individual-psycholo­gischer und kollektiv-psychologischer Strukturen ab - er behauptet sogar die genau umgekehrte Richtung der Entwicklung psychischer Strukturen im historischen Prozeß.

Die Frage danach, welche Vorstellung empirisch besser stützbar ist, wäre anhand der Untersuchung größerer Zeiträume zu beantworten. Aufgrund der hier vorgelegten Rekonstruktion lassen sich folgende Ausführungen machen: Die Selbstkasteiungen der Mystiker können als das Wirken eines archaischen, unbarmherzigen und unintegrierten Überichs verstanden werden, das in regressiven bzw. dissoziierten Bewußtseinszuständen personhaft-halluzinativ (etwa als Seuses „ungeheure höllische Person“) erlebt wird. Trieb­abfuhr im Freud’schen Sinn kann nur erfolgen, wenn dieses unbarmherzige Überich gleichzeitig versöhnt und zufriedengestellt werden kann. Die Genese dieser Überich-Konfiguration steht, so wird hier vermutet, in unmittelbarem Zusammenhang mit traumatischen Realerfahrungen, meist mit den eigenen Eltern. Die Mystiker werden also nicht als Personen mit überbordender Es-Ausstattung verstanden, die permanent ihre masochistischen Partialtriebe befriedigen, sondern als traumatisierte Menschen, die um die Integration abgespaltener Überich-Strukturen innerhalb unzähliger selbstbeschädigender Episoden ringen.

Innerhalb des Samples läßt sich folgende Tendenz hinsichtlich der Frage nach Zu- oder Abnahme (bzw. besserer oder schlechterer Integration) von Überich-Konfigurationen erkennen: Die Mystiker weisen - mit einer Ausnahme - eine Borderline-Persönlichkeit auf, wobei das zugehörige Überich archaisch, wenig integriert und grausam ist. Historisch später folgen mit Soest und Butzbach narzißtische Persönlichkeiten, wobei insbesondere extreme Kränkbarkeit charakteristisch ist. Im Unterschied zu den Borderline-Persönlichkeiten der Mystiker zeigen sich hier weniger auto- und mehr heteroaggressive Züge. Das zugehörige Über­ich ist immer noch grausam, aber deutlich integrierter als das der Mystiker. Der unter Kastrationsangst leidende Felix Platter kann als eine archaisch-neurotische Persönlichkeit verstanden werden mit einem strengen, aber nicht verfolgenden Überich. Weinsbergs Persönlichkeit weist als einzige geradezu moderne Züge auf, wie sich u. a. an seiner individuell entwickelten Skepsis gegenüber der Existenz von Hexen festmachen läßt.

Archaischere Überich-Formationen sind m. E. als stärkere Selbstzwänge zu verstehen: Es handelt sich um „innere“ Kräfte, die das Handeln und Erleben des Individuums massiv beeinflussen. Zur empirischen Evidenz aufgrund des hier untersuchten Samples zum Zusammenhang von Persönlichkeitsstruktur und Überich muß allerdings deutlich gesagt werden, daß sie anhand einer einzigen Quellensorte - nämlich Autobiographien - gefunden wurde und insbesondere die Mystiker wohl kaum als repräsentativ für die Subjekte ihrer Zeit anzusehen sind.

Nimmt man die im vorliegenden Artikel verwendete sehr grobe Orientierung hinsichtlich der Persönlichkeitsstrukturen als Hinweis auf die Beschaffenheit des jeweiligen Überich, so ergibt sich eine Tendenz hin zu einer zunehmend Ich-gerechteren Integration von Überich-Strukturen im historischen Verlauf. Anders formuliert: Die Kinder erleben immer weniger Deprivationen und Traumata; die Bildung von grausamen Überich-Vorläufern wird gemildert bzw. unterbleibt. Die empathischeren Interaktionen von Eltern und Kindern führen zu Ich-gerechterer Verhaltenssteuerung und zu weniger Selbstzwang.

Es legt sich außerdem nahe, daß die Selbstzwänge aller hier untersuchten historischen Subjekte massiv ausgeprägt sind und erheblich deutlicher zutage treten, als intuitiv in bezug auf heutige Verhältnisse vermutet würde. Vielleicht weicht von dieser Aussage alleine Weinsberg ab. Hinzuzufügen ist natürlich, daß dieses intuitive Urteil problematisch ist und empirisch gestützte Evidenz einfordert. Jedenfalls scheint deutlich zu werden, daß eine Hypothese, die eine Zunahme von Überich-Strukturen im historischen Verlauf behauptet, nicht von der hier vorgelegten empirischen Evidenz gestützt wird. Für die Hypothese einer Abnahme ergibt sich wohl immerhin eine gewisse empirische Evidenz.

Man kann nun das Problem etwas umformulieren. Die hier vorgelegte Evidenz spricht für eine Abnahme infantiler Traumen und eine zunehmende elterliche Empathie einschließlich größerer Akzeptanz kindlicher Bedürf­nisse. Geht man ganz allgemein davon aus, daß härtere Überich-Strukturen durch ein Mehr an massiven Versagungen, Traumen und Deprivationen in der Kindheit entstehen, kann umgekehrt gesagt werden: Die konstatierbare Verbesserung der affektiven Qualitäten der Eltern-Kind-Bezie­hungen erlaubt ceteris paribus eine bessere Integration von Überich-Strukturen und eine umfangreichere Akzeptanz des kind­lichen Trieblebens. Insofern wird die deMause’sche Ansicht zu einem allgemeinen Trend der Kulturent­wicklung gestützt, während die Auffassungen von Elias in Zweifel zu ziehen sind. Die theoretische Kon­struktion von Elias weist den „inneren Widerspruch“ auf, daß affektgeleitete Erwachsene keineswegs prädestiniert sind, die Gefühle ihrer sozialen Umgebung, darunter die der eigenen Kinder, in besonderem Maße zu akzeptieren. Da aber die von Elias zugegebenermaßen als asymmetrisch aufgefaßte Eltern-Kind-Beziehung gerade die Eigenheit aufweist, daß das Affekthandeln der Eltern auf Kosten des Kindes gehen kann und im Falle von damit einhergehenden Traumen das Kind seine Überich-Strukturen folgerichtig etablieren, aktivieren und später tradieren muß, folgt eine Infragestellung der theoretischen Konstruktion der Elias’schen - und damit auch der Freud’schen - Zivilisations­theorie: Beide Entwürfe sind nach der hier vorgelegten Rekonstruktionsskizze logisch inkohärent.

Sozusagen als Kommentar zur Meta-Ebene der hier ausgeführten Opponierung ist hinzuzufügen, daß trotz aller Unterschiede eine innere Verwandtschaft zwischen den Ansätzen von Elias und deMause zu erkennen ist. Die hier ausgeführte Opponierung basiert geradezu auf dieser Verwandtschaft. Die sich widersprechenden Auffassungen innerhalb beider Ansätze können möglicherweise begrifflich geklärt werden, wobei der Begriff des Überichs bzw. des Selbstzwanges im Zentrum einer derartigen Klärung stehen muß.

Elias hat sich zum psychogenetischen Ansatz von deMause in einem Artikel geäußert.[101] Darin stützt er sehr weitgehend die beschreibende Evidenz von deMause. Beide Forscher wenden sich gegen die Idealisierung des Gebildes Familie, und Elias schreibt:

 

„Das anachronistische Beharren auf einer idealisierenden Vorstellung von der Eltern-Kind-Beziehung, wie von Familienbeziehungen überhaupt, ist eines der größten Hindernisse, das einer sachgerechteren Bewältigung zeitgenössischer Familienprobleme im Wege steht. (...) Wenn das Machtgefälle zwischen Eltern und Kindern geringer wird, - und das ist der Entwicklungstrend unserer Zeit - dann ändert sich die Lage. Die die Familie bildenden Menschen sind dann in geringerem Maße als früher an vorgegebene Formen gebunden, sie sind in höherem Maße als früher darauf angewiesen, durch ihre eigene Anstrengung, also absichtsvoller als früher, einen modus vivendi miteinander auszuarbeiten.“[102]

 

Die auch von Elias konstatierten Veränderungen in den Eltern-Kind-Beziehungen lassen sich mit dem Schlagwort „Evolution der Empathie“ zusammenfassen. Kindheit wandelt sich gerichtet, weil Eltern in ganz erstaunlichem Ausmaß einen historischen Lernprozeß durchlaufen und die Bedürfnisse ihrer Kinder in immer angemessenerer Weise verstehen und befriedigen können. Die veränderte Kindheit bringt immer wieder historisch neue Persönlichkeitsstrukturen hervor. Dieses historisch neue Personal hat neue Wünsche und Ängste, neue Abwehrmechanismen und Glücksfähigkeiten und verändert den historischen Prozeß. DeMause vermutet, daß die letztendliche Ursache dieses Wandels darin besteht, daß Eltern versuchen, mit ihren Kindern ihre eigenen Ängste aus der eigenen Kindheit durchzuarbeiten.[103] Dadurch kommen sie, so deMause, ihren Kindern emotional einen Schritt näher und diese können den nächsten Schritt bei der Begegnung mit der nächsten Generation machen. Es kommt so gleichsam zu einer Art Akkumulation von immer zugewandteren Fürsorgeerfahrungen im historischen Prozeß. Dieser Vorgang läßt sich als Evolution elterlicher Empathie und damit als Evolution der Kindheit verstehen. Dieser Evolution korreliert eine Evolution der Persönlichkeitsstrukturen, wobei es zu einer Integration von Überich-Strukturen kommt.

 


Literatur

 

Quellen

 

Beer, Johann (1965): Sein Leben von ihm selbst erzählt. (Göttingen 1965).

 

Birken, Sigmund von (1988): Prosapia / Biographia. (Tübingen 1988).

 

Butzbach, Johannes (1991): Odeporicon: eine Autobiographie aus dem Jahre 1506. (Weinheim 1991).

 

Christina von Retters (1965): Lebensbeschreibung der sel. Christina, gen. von Retters. In: Archiv für Mittelrheinische Kirchengeschichte, 17, (1995), S. 209-252 und 18, (1966), S. 203-238. (Zit. als Christina I (1965) und Christina II (1966)).

 

Diesbach, Ludwig von (1986): Die autobiographischen Aufzeichnungen Ludwig von Diesbachs: Studien zur spätmittelalterlichen Selbstdarstellung im oberdeutschen und schweizerischen Raum. (Bern 1986).

 

Güntzer, Augustin (1896): Augustin Güntzers merkwürdige Lebensgeschichte. Ein Kulturbild aus dem Jahrhundert des 30jährigen Krieges. Erzählt von ihm selbst. In: Barmer Bücherschatz, 3. u. 4. Band. (Barmen 1896).

 

Mechthild von Hackeborn (1880): Der heiligen Mechtildis, Jungfrau aus dem Orden des heiligen Benediktus, Buch besonderer Gnade. (Regensburg 1880).

 

Mechthild von Magdeburg (1955): Das fließende Licht der Gottheit. (Einsiedeln, Zürich, Köln 1955).

 

Mechthild von Magdeburg (1990): Das fließende Licht der Gottheit: Nach der Einsiedler Handschrift in kritischem Vergleich mit der gesamten Überlieferung. Band I: Text. (München 1990).

 

Platter, Felix (1976): Tagebuch (Lebensbeschreibung) 1536-1567. (Basel, Stuttgart 1976).

 

Platter, Thomas (1890): Thomas Platters Briefe an seinen Sohn Felix. (Basel 1890).

 

Platter, Thomas (1878): Thomas und Felix Platter: Zur Sittengeschichte des 16. Jahrhunderts. (Leipzig 1878).

 

Platter, Thomas (1911): Lebensbeschreibung. In: Fischer, Otto (Hg.): Thomas und Felix Platters und Agrippa d’Aubignés Lebensbeschrei­bungen. (München 1911), S. 15-168.

 

Platter, Thomas (1944): Thomas Platter: Lebensbeschreibung. (Klosterberg, Basel 1944).

 

Ryff, Andreas (1870): Selbstbiographie des Andreas Ryff (bis 1574): In: Beiträge zur vaterländischen Geschichte, 9. Band. (Basel 1870).

 

Sastrow, Bartholomäus (1823-24): Bartholomäi Sastrowen Herkommen, Geburt und Lauff seines gantzen Lebens, 3 Bände. (Greifswald 1823-24).

 

Schwarz, Matthäus; Schwarz, Veit Konrad (1963): Die Schwarzschen Trachtenbücher. (Berlin 1963).

 

Seuse, Heinrich (1907, unveränderter Nachdruck 1961): Deutsche Schriften. (Stuttgart 1907). (Nachdruck: Frankfurt am Main 1961).

 

Seuse, Heinrich (1911): Heinrich Seuses deutsche Schriften, 2 Bände. (Jena 1911).

 

Seuse, Heinrich (1966): Deutsche mystische Schriften. (Düsseldorf 1966).

 

Soest, Johann von (1811): Johanns von Soest eigne Lebensbeschreibung. In: Fichard, J. C. v. (Hg.): Frankfurtisches Archiv für ältere deutsche Literatur und Geschichte. (Frankfurt am Main 1811).

 

Sunder, Friedrich (1980): Das Gnadenleben des Friedrich Sunder, Klosterkaplan zu Engelthal. In: Ringler, Siegfried (Hg.): Viten- und Offenbarungsliteratur in Frauenklöstern des Mittelalters: Quellen und Studien. (Zürich, München 1980), S. 391-444.

 

Tucher, Katharina (1998): Die „Offenbarungen“ der Katharina Tucher. (Tübingen 1998).

 

Weinsberg, Hermann von (1886): Das Buch Weinsberg: Kölner Denkwürdigkeiten aus dem 16. Jahrhundert, 1. Band. (Leipzig 1886).

 

Weinsberg, Hermann von (1887): Das Buch Weinsberg: Kölner Denkwürdigkeiten aus dem 16. Jahrhundert, 2. Band. (Leipzig 1887).

 

Weinsberg, Hermann von (1897): Das Buch Weinsberg: Kölner Denkwürdigkeiten aus dem 16. Jahrhundert, 3. Band. (Bonn 1897).

 

Weinsberg, Hermann von (1898): Das Buch Weinsberg: Kölner Denkwürdigkeiten aus dem 16. Jahrhundert, 4. Band. (Bonn 1898).

 

Weinsberg, Hermann von (1926): Das Buch Weinsberg: Kölner Denkwürdigkeiten aus dem 16. Jahrhundert, 5. Band. (Bonn 1926).

 

Zink, Burkard (1866): Chronik des Burkard Zink. In: Hegel, Carl (Hg.): Die Chroniken der deutschen Städte vom 14. bis ins 16. Jahrhundert, 5. Band. (Leipzig 1866).

 

 

Sekundärliteratur

 

Bernheiden, Inge (1988): Individualität im 17. Jahrhundert: Studien zum autobiographischen Schrifttum. (Frankfurt am Main, Bern, New York, Paris 1988).

 

Beyer-Fröhlich, Marianne (1930): Die Entwicklung der deutschen Selbstzeugnisse. 6 Bände. (Leipzig 1930).

 

Bihlmeyer, Karl (1907, unveränderter Nachdruck 1961): Einleitung. In: Bihlmeyer, Karl (Hg.): Heinrich Seuse: Deutsche Schriften. (Stuttgart 1907), S. 1-163.

 

Bursten, Ben (1996): Die Beziehungen zwischen narzißtischen und antisozialen Persönlichkeiten. In: Kernberg, Otto F. (Hg.): Narzißtische Persönlichkeitsstörungen. (Stuttgart, New York 1996), S. 71-85.

 

Bumiller, Casimir (2000): Die „Selbstanalyse“ des Arztes Felix Platter (1534-1614). In: Frenken, Ralph / Rheinheimer, Martin (Hg.): Die Psychohistorie des Erlebens. (Kiel 2000), S. 303-324.

 

DeMause, Lloyd (1989 a): Evolution der Kindheit. In: deMause, Lloyd (Hg.): Hört ihr die Kinder weinen: eine psychogenetische Geschichte der Kindheit. (Frankfurt am Main 1989 a), S. 12-111.

 

DeMause, Lloyd (1989 b): Grundlagen der Psychohistorie. (Frankfurt am Main 1989 b).

 

DeMause, Lloyd (1990): The History of Child Assault. In: The Journal of Psychohistory, 18 (1990), S. 1-29.

 

DeMause, Lloyd (1999): Childhood and Cultural Evolution. In: The Journal of Psychohistory, 26 (1999), S. 642-723.

 

Dinzelbacher, Peter (1993): Mittelalterliche Frauenmystik. (Paderborn, München, Wien, Zürich 1993).

 

Dinzelbacher, Peter (1994): Christliche Mystik im Abendland: ihre Geschichte von den Anfängen bis zum Ende des Mittelalters. (Paderborn, München, Wien, Zürich 1994).

 

Elias, Norbert (1980): Die Zivilisierung der Eltern. In: Burkhardt, Linde (Hg.): „... und wie wohnst Du?“. (Berlin 1980), S. 11-28.

 

Elias, Norbert (1993): Über den Prozeß der Zivilisation: soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. 2 Bände. (Frankfurt am Main 1993).

 

Frenken, Ralph (1999): Kindheit und Autobiographie vom 14. bis 17. Jahrhundert: Psychohistorische Rekonstruktionen. 2 Bände. (Kiel 1999).

 

Frenken, Ralph (2002): Kindheit und Mystik im Mittelalter. (Frankfurt am Main 2002).

 

Freud, Sigmund (1923): Das Ich und das Es. In: G. W. XIII. (Frankfurt am Main 1923).

 

Freud, Sigmund (1930): Das Unbehagen in der Kultur. In: G. W. XIV. (Frankfurt am Main 1930).

 

Hansen, Joseph (1901): Quellen und Untersuchungen zur Geschichte des Hexenwahns und der Hexenverfolgung im Mittelalter. (Bonn 1901).

 

Hirsch, Mathias (1994): The Body as a Transitional Object. In: Psychotherapy and Psychosomatics, 62, (1994), S. 78-81.

 

Hunt, David (1970): Parents and Children in History: The Psychology of Family Life in Early Modern France. (New York, Evanston, San Francisco, London 1970).

 

Kafka, John S. (1969): The Body as Transitional Object: A Psychoanalytic Study of a Self-Mutilating Patient. In: British Journal of Medical Psychology, 42, (1969), S. 207-212.

 

Kernberg, Otto F. (1975): Zur Behandlung narzißtischer Persönlichkeitsstörungen. In: Psyche, 10, (1975), S. 890-905.

 

Kernberg, Otto F. (1991): Borderline-Störungen und pathologischer Narzißmus. (Frankfurt am Main 1991).

 

Kernberg, Otto F. (1996): Schwere Persönlichkeitsstörungen: Theorie, Diagnose, Behandlungsstrategien. (Stuttgart 1996).

 

Kernberg, Otto F. (1997 a): Obektbeziehungen und Praxis der Psychoanalyse. (Stuttgart 1997 a).

 

Kernberg, Otto F. (1997 b): Wut und Haß: Über die Bedeutung von Aggression bei Persön­lich­keits­störungen und sexuellen Perversionen. (Stuttgart 1997 b).

 

Klaiber, Theodor (1921): Die deutsche Selbstbiographie: Beschreibungen des eigenen Lebens, Memoiren, Tagebücher. (Stuttgart 1921).

 

Klein, Melanie (1927): Frühstadien des Ödipuskonfliktes. In: Melanie Klein (Hg.): Frühstadien des Ödipuskomplexes: Frühe Schriften (1928-1945). (Frankfurt am Main 1985), S. 7-21.

 

Klein, Melanie (1945): Der Ödipuskomplex unter dem Aspekt der frühen Angstsituation. In: Melanie Klein (1985): Frühstadien des Ödipuskomplexes: Frühe Schriften (1928-1945). (Frankfurt am Main 1985), S. 107-169.

 

Klein, Melanie (1973): Die Psychoanalyse des Kindes. (München 1973).

 

Klein, Melanie (1994): Das Seelenleben des Kleinkindes und andere Beiträge zur Psychoanalyse. (Stuttgart 1994).

 

Laplanche, J.; Pontalis, J.-B. (1991): Das Vokabular der Psychoanalyse. (Frankfurt am Main: 1991).

 

Lumme, Christoph (1996): Höllenfleisch und Heiligtum: der menschliche Körper im Spiegel autobiographischer Texte des 16. Jahrhunderts. (Frankfurt am Main, Berlin, Bern, New York, Paris, Wien 1996).

 

Mahrholz, Werner (1919): Deutsche Selbstbekenntnisse: ein Beitrag zur Geschichte der Selbstbiographie von der Mystik bis zum Pietismus. (Berlin 1919).

 

Misch, Georg (1949 ff.): Geschichte der Autobiographie. (Frankfurt am Main 1949 ff.).

 

Misch, Georg (1967): Geschichte der Autobiographie. 4. Band. (Frankfurt am Main 1967).

 

Peiper, Albrecht (Hg.) (1991): Chronik der Kinderheilkunde. (Leipzig, Stuttgart, New York 1991).

 

Pfaff, Friedrich (1887): Johann von Soest: Sänger, Dichter und Arzt 1448-1506. In: Allge­meine konservative Monatsschrift für das christliche Deutschland, 44, (1887), S. 147-156, 247-255.

 

Rein, Adolf (1919): Über die Entwicklung der Selbstbiographie im ausgehenden deutschen Mittelalter. In: Archiv für Kulturgeschichte, 14, (1919), S. 193-213. Wiederabgedruckt in: Niggl, Günter (Hg.) Die Autobiographie: zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung. (Darmstadt 1989), S. 321-342.

 

Rohde-Dachser, Christa (1994): Warum sind Borderline-Patienten meistens weiblich? Über die Rolle des Traumas in der Borderline-Entwicklung. In: Rohde-Dachser, Christa. Im Schatten des Kirschbaums. (Bern, Göttingen, Toronto, Seattle 1994), S. 79-92.

 

Rohde-Dachser, Christa (1995): Das Borderline-Syndrom. (5., überarb. und erg. Aufl.). (Bern, Stuttgart, Wien 1995).

 

Schottenloher, Karl (Hg.) (1938): Bibliographie zur deutschen Geschichte im Zeitalter der Glaubensspaltung 1517-1585. Band IV. (Leipzig 1938).

 

Shapiro, Shanti (1987): Self-Mutilation and Self-Blame in Incest Victims. In: American Journal of Psychotherapy, 41 (1987), S. 46-54.

 

Spiegel, Nikolaus (1888): Vaganten und Bacchanten. 2 Teile. (Augsburg 1888).

 

Spiegel, Nikolaus (1904): Das fahrende Schülertum: ein Ergebnis der deutschen Schulver­hältnisse während des XV. / XVI. Jahrhunderts. (Würzburg 1904).

 

Stone, M. H. (1996): Langzeitkatamnese von narzißtischen und Borderline-Patienten. In: Kernberg, Otto F. (Hg.): Narzißtische Persönlichkeitsstörungen. (Stuttgart, New York 1996), S. 131-164.

 

Van der Hart, Onno; Lierens, Ruth; Goodwin, Jean (1996): Jeanne Fery: A Sixteenth-Century Case of Dissociative Identity Disorder. In: The Journal of Psychohistory, 24 (1996), S. 18-35.

 

Wenzel, Horst (1980): Die Autobiographie des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit. 2 Bände. (München 1980).

 

Westphal, M. (1923): Die besten deutschen Memoiren, Lebenserinnerungen und Selbstbiographien aus sieben Jahrhunderten. (Leipzig 1923).



Die E-mail die Anschrift von dem Autor: Frenken@em.uni-frankfurt.de

Seine Veröffentlichungen: (1997). The History of German Childhood through Autobiographies. In: The Journal of Psychohistory, 24 (4), S. 390-402; (1999). Kindheit und Autobiographie vom 14. bis 17. Jahrhundert: Psychohistorische Rekonstruktionen. 2 Bände. (= Psychohistorische Forschungen, Band 1/1 u. 1/2). Kiel: Oetker-Voges; (2000). Changes in German Parent-Child Relations from the Fourteenth to the Middle of the Seventeenth Century. In: The Journal of Psychohistory, 27 (3), S. 228-272; (2000). Die Psychohistorie des Erlebens: eine einleitende Programmatik. In: Ralph Frenken; Martin Rheinheimer (Hg.). Die Psychohistorie des Erlebens. (= Psychohistorische Forschungen, Band 2), Kiel: Oetker-Voges. (S. 7-19); (2000). Mystisches Erleben. In: Ralph Frenken; Martin Rheinheimer (Hg.). Die Psychohistorie des Erlebens. (= Psychohistorische Forschungen, Band 2), Kiel: Oetker-Voges. (S. 227-254); (2000). Childhood and Fantasies of Medieval Mystics. In: The Journal of Psychohistory, 28 (2), S. 150-172; (2000). Book Presently In Print: Frenken, Ralph (2002). Kindheit und Mystik im Mittelalter. Frankfurt am Main: Lang. 344 pages. ISBN: 3-631-38467-X.

Return to the Psychology and Mysticism Index

Return to the Psychohistory Articles Index

Return to the Primal Psychotherapy Page

 

 



[1]Vgl. Frenken (1999) vorwiegend zu den säkularen Autobiographien vom 15. bis 17. Jahrhundert und (2001) zu mystischen Texten vom 13. bis 15. Jahrhundert.

[2]Vgl. hierzu etwa Klaiber (1921), S. 1 ff.; Ulrich in: Westphal (1923), S. 15 ff.; Misch (1967), Bd. 4/1, S. 98 ff.

[3]Vgl. Bihlmeyer (1907), S. 135*.

[4]Vgl. Rein (1919), S. 337.

[5]Vgl. Freud (1923), S. 256 ff.

[6]Vgl. hierzu Laplanche und Pontalis (1991), Stichworte „Überich“ und „Ichideal“.

[7]Vgl. hierzu etwa Kernberg (1991), S. 55 f.; (1997 a), 58 ff.

[8]Vgl. Klein (1927), S. 8 ff; (1945), S. 107 ff; (1973), S. 157 ff.

[9]Vgl. Klein (1994), S. 139 f.

[10]Vgl. Kernberg (1991), (1996), (1997 a u. b).

[11]Vgl. Kernberg (1996), S. 396 ff.

[12]Vgl. Kernberg (1991), S. 57.

[13]Vgl. Kernberg (1997 b). S. 42 ff.

[14]Vgl. Kernberg (1991); Rohde-Dachser (1995).

[15]Vgl. Kernberg (1991), S. 25 ff.; Rohde-Dachser (1995), S. 38 ff.

[16]Zu den primärprozeßhaften Denkformen vgl. Kernberg (1991), S. 43 ff; zur „Mini-Psychose“ vgl. Rohde-Dachser (1995), S. 51. Mini-Psychosen sind kurzfristige Dekompensationen, die Reaktionen auf Streß darstellen. Sie sind reversibel, werden ich-dyston erlebt und sind tendenziell flüchtig. Die Patienten kommen selbständig aus diesen psychotischen Episoden heraus (Spontanremission). Bestimmte Formen mystischen Erlebens sind phänomenal als Mini-Psychose zu bezeichnen.

[17]Vgl. Kernberg (1996), S. 36.

[18]Vgl. Kernberg (1991), S. 41 ff.

[19]Vgl. Kernberg (1991), S. 44 ff.

[20]Kernberg (1991), S. 55 f.; (1997 a), 58 ff.

[21]Vgl. Kernberg (1997 b), S. 43.

[22]Vgl. Kernberg (1997 b), S. 57 ff.

[23]Vgl. Rohde-Dachser (1995), S. 83.

[24]Kernberg (1991), S. 47 f.

[25]Kernberg (1991), S. 58. Die englischsprachige Originalausgabe erschien 1975.

[26]Kernberg (1997 b), S. 42 ff.

[27]Vgl. Rohde-Dachser (1994), S. 79 f. und (1995), S. 141.

[28]Vgl. hierzu etwa Klaiber (1921), S. 1 ff.; Ulrich in: Westphal (1923), S. 15 ff.; Misch (1967), Bd. 4/1, S. 98 ff. Für einen Überblick über das Phänomen der Mystik vgl. Dinzelbacher (1993) und (1994).

[29]Vgl. Seuse (1907), S. 39 ff.; Seuse (1911), S. 33 ff. Seuse beschreibt derartige Praktiken vor allem in den Kapiteln 15 bis 18. Die Selbstgeißelungen führt Seuse offensichtlich häufig aus, u. a. auch an seinem Geburtstag (vgl. Seuse (1907), S. 44; Seuse (1911), S. 37). Zu derartigen anniversary reactions vgl. auch van der Hart et al. (1996).

[30]Vgl. Seuse (1907), S. 46 ff.; Seuse (1911), S. 39 ff.

[31]Vgl. Seuse (1907), S. 15; Seuse (1911), S. 14.

[32]Vgl. Seuse (1907), S. 15 f; Seuse (1911), S. 14 f. Lehmann ersetzt „zarter got“ bei Bihlmeyer (Seuse (1907), S. 15 f) durch „großer Gott“ (Seuse (1911), S. 14); Hofmann ersetzt durch „lieber Gott“ (Seuse (1966), S. 26). Beiden Übersetzern scheint der körperbetonende, erotisch gefärbte Begriff „zart“ offenbar so anstößig, daß er durch sinnentstellende Adjektive ausgetauscht wird. Die hier vorliegende Sinnveränderungen wurde vom Verfasser der vorliegenden Arbeit rückgängig gemacht; die Korrektur ist durch Kursivierung markiert.

[33]Vgl. Kafka (1969), S. 207-212.

[34]Die Interpretation des fließenden Blutes als symbolisierte Milch basiert auf einer Bemerkung von deMause (1989 a), S. 94, Fußnote 102. Seit der Antike war die Vorstellung verbreitet, daß Milch umgewandeltes Blut sei (vgl. Peiper (1958), S. 20). Mechthild von Magdeburg, eine Mystikerin des 13 Jahrhunderts, formuliert die Gleichsetzung von Blut und Milch (sowie von Wunden und Brüsten) folgendermaßen: „Da waren seine [Jesu] Wunden und ihre [Mariae] Brüste offen. Die Wunden gossen und die Brüste flossen, und die Seele ward lebendig und gesund, da er in ihren roten Mund den lauteren purpurnen Wein ergoß.“ (Mechthild von Magdeburg (1955), S. 67).

[35]Vgl. Hirsch (1994), S. 78-81. Hirsch sieht in den Phänomenen der Selbstbeschädigung (hier vor allem Schmerzen und fließendes Blut) die Erschaffung eines mütterlichen Objektes im Sinne eines pathologischen Übergangs­ojektes. Dabei wird der Körper als nicht zum Selbst gehörig erlebt, er wird dadurch manipulierbar wie ein externes Objekt und liefert dabei einen erleichterten Umgang mit inneren Spannungen und Angst.

[36]Hirsch (1994), S. 80.

[37]Vgl. Seuse (1907), S. 61; Seuse (1911), S. 51.

[38]Vgl. Seuse (1907), S. 61; Seuse (1911), S. 52.

[39]Vgl. Seuse (1907), S. 61; Seuse (1911), S. 52.

[40]Patienten mit Mißbrauchserfahrungen zeigen häufig die Tendenz, sich selbst für das Geschehen verantwortlich zu machen. Shapiro sieht in den Phänomenen der Selbstbeschädigung die Kulmination der Selbstanklage (vgl. Shapiro (1987), S. 46).

[41]Seuse gibt auch an, eine Vision gehabt zu haben, in der er von der Jungfrau Maria gestillt wurde (vgl. Seuse (1907), S. 50; Seuse (1911), S. 42 f.). Dieses Thema ist häufig in der religösen Literatur der damaligen Zeit. Auch Seuses Denken kreiste um Vereinigung mit einem extrem idealisierten Objekt, eingekleidet in infantile Muster des Gestilltwerdens, des Geborgenseins und der Zuwendung.

[42]Vgl. Mechthild v. H. (1880), S. 357 (Buch V, Kap. 29).

[43]Vgl. Mechthild v. H. (1880), S. 185 f. (Buch II, Kap. 183).

[44]Christina I (1965), S. 234.

[45]Vgl. Stone (1996), S. 131 ff.

[46]Bursten (1996), S. 79.

[47]Vgl. Kernberg (1991), S. 262.

[48]Vgl. Kernberg (1991), S. 263.

[49]Vgl. Kernberg (1991), S. 303.

[50]Vgl. Kernberg (1991), S. 291.

[51]Vgl. Kernberg (1975), S. 898.

[52]Vgl. Frenken (1999), S. 680 ff.

[53]Vgl. Soest (1811), S. 86; Heimann in: Soest (1986), S. 13.

[54]Vgl. Soest (1811), S. 86; zur Interpretation: Frenken (1999), S. 278.

[55]Vgl. Soest (1811), S. 87.

[56]Soest (1811), S. 91.

[57]Soest (1811), S. 103.

[58]Vgl. Soest (1811), S. 98.

[59]Vgl. Pfaff (1887), S. 248.

[60]Vgl. Soest (1811), S. 116.

[61]Vgl. Butzbach (1991), S. 143.

[62]Vgl. Hunt (1970), S. 173. Hunt teilt beinahe die gleiche Szene für Ludwig den XIII. mit, der das Bett mit seiner Amme teilte, wenn deren Mann abwesend war. Hunt stellt auch den Zusammenhang zur späteren beeinträchtigten Sexualentwicklung Ludwigs her, die von mehreren dokumentierten bzw. rekonstruierbaren traumatischen Kindheitsthemen beeinflußt ist.

[63]Butzbach (1991), S. 137.

[64]Vgl. Butzbach (1991), S. 145 ff.

[65]Zur Figur des Beanus bzw. des Bacchanten als fahrender Schüler, der in Begleitung kindlicher Schützen umherzieht und betteln läßt, vgl. Spiegel (1888) u. (1904).

[66]Platter (1911) bezeichnet diesen älteren Schüler als Bacchanten.

[67]Butzbach (1991), S. 159.

[68]Butzbach (1991), S. 221.

[69]Hansen (1901), S. 603.

[70]Vgl. Hansen (1901), S. 602.

[71]Hansen (1901), S. 604.

[72]Zu Butzbachs Moralisieren vgl. Frenken (1999), S. 340, zur idealisierten Vater-Imago vgl. S. 331, 344 ff. und 349.

[73]Vgl. F. Platter (1976), S. 81.

[74]T. Platter (1890), S. 80; (das obere Zitat wurde ausgewählt nach Hinweis von Casimir Bumiller). Thomas Platter sprach auch davon, daß der Sohn im Falle, daß er ohne beruflichen Erfolg bliebe, ihn ins „Grab bringen werde“ (vgl. S. 17). Eine synoptische Untersuchung aller Briefe von Thomas Platter steht noch aus.

[75]Vgl. hierzu die ausführliche Interpretation in: Frenken (1999), S. 499 ff.

[76]F. Platter (1976), S. 111.

[77]F. Platter (1976), S. 111 f.

[78]Vgl. Bumiller (2000), S. 313 ff. und Frenken (1999), S. 526 ff.

[79]Vgl. Ryff (1870), S. 53.

[80]Vgl. Ryff (1870), S. 71 ff.

[81]Ryff (1870), S. 48.

[82]Ryff (1870), S. 94.

[83]Vgl. Liber iuventutis, S. 6, Rückseite; Transkription in: Frenken (1999 a), S. 418 f.

[84]Weinsberg (1886), S. 26.

[85]Weinsberg (1886), S. 37.

[86]Vgl. Frenken (1999), S. 427 ff.

[87]Vgl. Weinsberg (1886), S. 113.

[88]Weinsberg (1886), S. 114.

[89]Vgl. Weinsberg IV (1898), S. 69.

[90]Vgl. F. Platter (1976), S. 362.

[91]Vgl. Frenken (2002). Dort habe ich weitere 12 Mystiker anhand biographischer Texte untersucht. Die hier getroffene Auswahl stimmt mit dieser größeren Stichprobe in den typischen Kennzeichen (insbesondere: Dissoziation und primitive Idealisierung auf Borderline-Niveau) weitgehend überein.

[92]Vgl. Frenken (1999). Von diesen 19 Werken wurden für das hier untersuchte Sample vier Texte ausgeschlossen, deren Gehalt in bezug auf Kindheit relativ gering war.

[93]Vgl. hierzu genauer Frenken (1999), S. 138 f. sowie eine Liste von etwa 50 Autobiographien des gleichen Zeitraums, die keine oder nur sehr kurze Kindheitsdarstellungen enthalten (S. 771 ff.). Folgende Arbeiten und Sammelwerke wurden zur Zusammenstellung des Samples an Autobiographien benutzt: Mahrholz (1919), Klaiber (1921), Westphal (1923), Beyer-Fröhlich (1930), Schottenloher (1938), Misch (1949 ff.), Wenzel (1980), Bernheiden (1988), Lumme (1996).

[94]Vgl. hierzu ausführlicher: Frenken (1999), S. 142 f.

[95]Vgl. hierzu Frenken (2002).

[96]DeMause (1989 a), S. 82. Die zeitlichen Angaben wurden revidiert und werden oben nach deMause (1990), S. 13 f. sowie (1999), S. 661 ff. angegeben.

[97]Vgl. für säkulare Autobiographen: Frenken (1999), für Mystikerinnen und Mystiker: Frenken (2002).

[98]DeMause (1989 b), S. 21.

[99]DeMause (1989 b), S. 93 bezieht sich hierbei wohl direkt auf Freuds Schrift Das Unbehagen in der Kultur (1930). Im englischen Essay von deMause (1992), S. 137 lautet das Zitat: „Freud’s idea that civilization proceeds by »progressively greater renunciation of instinct« was precisely backward; civilisation proceeds only through progressively greater acceptance of the drives of children, allowing them to mature without defensive distortion.“ Das hierin enthaltene „Freud-Zitat“ lautet wohl im Original: „Drittens endlich, und das scheint das Wichtigste, ist es unmöglich zu übersehen, in welchem Ausmaß die Kultur auf Triebverzicht aufgebaut ist, wie sehr sie gerade die Nichtbefriedigung (Unterdrückung, Verdrängung oder sonst etwas?) von mächtigen Trieben zur Voraussetzung hat.“ (Freud (1930), S. 457 ff.) Freuds Aussagen scheinen im Original komplizierter als in der Wiedergabe, wenngleich die generelle Linie seiner Theorie der kulturellen Entwicklung durch deMause wohl zutreffend charakterisiert ist.

[100]Vgl. Elias (1993), S. LXI f.

[101]Vgl. Elias (1980), S. 11 ff.

[102]Elias (1980), S. 28.

[103]Vgl. deMause (1989 a), S. 14 ff.

EMaK www.emak.org ist eine Webseite für Erwachsene Misshandelt als Kinder. Über die Erfahrungen einer misshandelten Kindheit zu sprechen ist oftmals der erste Schritt auf einem langen Weg die unsichtbaren Wunden zu heilen.

-- Sieglinde W. Alexander