Sobald wir
Erwachsene, die als Kinder misshandelt wurden, uns mit unserer
Vergangenheit auseinander setzen, wird auch das Bedürfnis geweckt,
diese regressiven Gedanken auszudrücken. Für den Wunsch, Gefühle
mitzuteilen und nach Antworten zu suchen, ist Schreiben eine natürliche
Folgereaktion, die ich nur als Selbstanalyse bezeichnen kann. Auf
diesem selbstanalytischen Weg haben wir die Möglichkeit, Gedanken,
Erinnerungen und Gefühle miteinander zu verbinden, was uns dem erlebten
Trauma näher kommen lässt. Was aber darüber hinaus sich noch als sehr
entscheidend zeigt ist, dass wir letztendlich unser verlorenes
Selbstwertgefühl und die Persönlichkeit wieder finden, die durch die
zugefügte Gewalt zerstört wurde. Danach haben wir die Chance unsere
Bedürfnisse zu erkennen, die in frühester Kindheit nicht gestillt
wurden, was sehr oft die Grundlage einer emotionalen Störung ist. Der
erste Schritt, ein erlebtes Trauma zu heilen, beginnt mit Worten, die
das Trauma beschreiben. Während viele dabei professionelle Hilfe in
Anspruch nehmen, können andere sich das nicht leisten oder wagen diesen
Schritt nicht. Meine eigenen ersten Schritte waren umständehalber
Schreiben.
Als ich begann, mich mit meiner entsetzlichen Kindheit zu
konfrontierten, machte ich die Entdeckung, dass das Schreiben eine
positive und dauerhaft emotional heilende Wirkung hat. Darüber hinaus
konnte ich, bei späterem Wiederlesen, den Fortschritt erkennen, den ich
seit meinem ersten Anlauf in 1993 gemacht hatte. Das Schreiben öffnete
mir auch eine davor gut verschlossene Tür zur Aufrichtigkeit mir selbst
gegenüber und so tauchte die unwiderrufliche Realität meiner
Vergangenheit innerlich vor mir auf. Mit jeder geschrieben Seite kam
ich meinem wirklichem Ich näher. Zum ersten Mal spürte ich, dass ich es
war, die mein Tun und Lassen steuern kann. Es war ein völlig neues
Gefühl, nicht dem Druck zu erliegen und die Erwartungen anderer zu
erfüllen, sondern nur meine Bedürfnisse auszudrücken. Ich selbst konnte
entscheiden, wie aufrichtig ich sein wollte und wie tief ich in die
Vergangenheit eindringen will. Vor allem aber war wichtig, dass ich
keinerlei Bewertung oder Verurteilung unterworfen war, weil ich selbst
entschied, wer, wenn überhaupt, von meinem tiefsten Schmerz erfahren
durfte, sollte oder konnte. Diese Sicherheit war für mich unabdingbar,
um genug Vertrauen und Kraft zu sammeln, um das größte und wichtigste
Hindernis zu überwinden, meine Angst. Mein Leben als Erwachsene war
geprägt von eingeimpfter Scham und Schuldgefühlen, die mich 42 Jahre
lang daran gehindert hatten, über meine misshandelte Kindheit zu
sprechen und die mich zwangen, in Selbstverleugnung zu leben.
Als ich 1993, als 43 Jährige, in tiefster Depression steckte, wollte
niemand mir zuhören, noch nicht einmal mein Mann. Niemand konnte meine
Ängste verstehen oder wendete sich mit den Worten ab, "lass doch die
Vergangenheit ruhen". Mein Mann wie auch meine Freunde verstanden
nicht, dass es genau das war, was ich seit vielen Jahren mit viel
Energieaufwand und doch erfolglos versuchte - die Erinnerung zu
unterdrücken. Ich hatte keine Gewalt über das Trauma, das immer wieder
in irgend einer Form und meistens unkontrolliert erwachte. Getrieben,
meine schmerzhaften Gedanken auszudrücken, schrieb ich, worüber ich
nicht sprechen konnte. Planlos erzählte ich dem Papier, was niemand
hören wollte oder nicht verstand. Ich dachte dabei zum ersten Mal weder
an Grammatik noch korrigierte ich Schreibfehler. So schrieb ich in drei
Monaten mehr als 400 Seiten und fühlte, wie mein alles überflutendes
Scham- und Schuldgefühl langsam seine Macht über mich verlor. Das war
der erste Schritt eines langenjährigen Heilungsprozess. Später, als ich
das Geschriebene wieder durchsah, entdeckte ich unter anderen,
scheinbar zusammenhanglosen Sätzen, eine spontane Notiz an einem
Seitenrand: "Ich muss meinen seelischen Mülleimer leeren".
Jahre später machte ich beim Wiederlesen dieser Texte eine wichtige
Entdeckung: Die unvollständigen und einzelne Sätze oder allein
dastehende Wörter waren das Ergebnis eines spontanen Schmerzausdrucks,
der aus einer inneren Tiefe sich in Worten manifestierte. Später aber
verstand ich, wie diese unvollständigen, für andere scheinbar
zusammenhanglosen Worte und Sätze von Zerrissenheit, Verletztheit und
Verwirrtseins, der emotionale Ausdruck meines Kindheitstrauma waren.
Ich erkannte, wie die große Spaltung, die zwischen meinen beiden
Gehirnhälften (Logik and Emotion) durch das Erleben von Gewalt
entstanden war und weshalb ich nicht in der Lage war, mich
auszudrücken. Ohne Zweifel erkannte ich die ernorme zerstörerische
Wirkung, die der Kindsmissbrauch zur Folge hat. Ganz klar erkannte ich
die schmerzlichen Gefühle und das Trauma, noch nicht aber ihren
Ursprung.
Das schreckliche Bild meiner Kindheit wurde durch diese Konfrontation
immer klarer und ich fragte mich, wie konnte ich als Erwachsene
funktionieren und den alltäglichen Erwartungen standhalten. Diese Frage
wurde später beantwortend und ich musste erkennen, dass mein
ursprüngliches Ich durch das Trauma in meiner Kindheit verändert worden
war.
Mir war klar, dass all die geschriebenen Seiten zusammen Ausdruck einer
spontanen, unbeabsichtigten Regression in meine Kindheit und zu dem
erlebten Trauma waren. Es war eindeutig zu erkennen, dass das
Wiedererleben des Traumas mich nicht nur in die zeitliche Vergangenheit
führte, sondern zugleich in das altersbedingte kindliche Bewusstsein.
Um so tiefer mein regressives Schreiben meine Kindheit aufzeichnete, um
so begrenzter wurde mein Wortschatz. Ganz klar stellte ich fest, dass
viele Seiten der Ausdruck eines sechsjährigen Kindes mit einem
begrenzten Wortschatz sind. Die einfachen Worte auf dem Papier
widerspiegelten eindeutig den Schmerz eines vernachlässigten und
misshandelten kleinen Kindes. Andere Seiten widerspiegelten ein mehr
fortgeschrittenes Stadium und klarer logisches, weiter
fortgeschrittenes, wenn auch verwirrtes Denken.
Zu meiner Überraschung stellte ich fest, dass dieses Schreiben nicht
nur die Gefühle meiner Kindheit aufzeichnete, sondern auch ein Ausdruck
meines momentanen, erwachsenen emotionalen Zustands war, der Bewies,
dass das Trauma trotz aller Versuche, es zu unterdrücken, noch immer
lebendig ist.
In verschiedenen Abschnitten erkannte ich einen konfusen Teen -
unfähig, unkoordiniert und überwältigt von den überfließenden
emotionalen Ereignissen. So unvollständig wie die einzelnen Trauma-
Erinnerungsbilder sichtbar wurden, so unvollständig waren die darüber
geschriebenen Seiten. In einigen Sätzen war eine große Hilflosigkeit zu
erkennen und zugleich auch das Bedürfnis nach Anschluss.
Überwältigt von diesen nun voll erwachten Emotionen reagierte ich auf
manchen Seiten sogar in Abwehrhaltung. An verschieden Stellen erkannte
ich mich später eindeutig als das Kind, das Abwehr-Reaktionen Leuten
gegenüber zeigte, die unangenehme Forderungen an mich stellten oder
mich kontrollierten wollten. Um so weiter zurück ich mit dem
Beschreiben meiner Kindheit ging, um so deutlicher erkannte ich den
limitierten Wortschatz eines Kindes, und zugleich kam ich dem
ursprünglichen Trauma sehr nahe. Als nun mein Schreiben wie von selbst
nur noch aus zerpflückten Sätze bestand, war ich unbewusst am Punkt
meines Traumas angelangt. Endlich gaben meine eigenen Worte eine
Antwort, nach der ich jahrelang gesucht hatte. Die ortgrafisch falschen
Worte wie auch die Satzstellung löste auch ein anderes Flashback aus:
wie mein Deutschlehrer in der fünften Klasse mich immer wieder ermahnte
"wo bist du mit deinen Gedanken". Meine Gedanken waren während des
Unterrichts bei dem kurz zuvor erlebten Trauma, den Gefühlen und
Bildern wie ich die Nacht zuvor vergewaltigt wurde. In dieser Zeit, wo
die Grundlagen für Grammatik gelegt wurden, war es mir nicht möglich,
mich zu konzentrieren, da meine Gedanken mit schmerzhaften Erinnerungen
beschäftigt waren. Die Konsequenz daraus war, dass ich deshalb das
schulisch Wichtigste versäumte, was mir dann mein Leben lang als
Hindernis anhing und wofür ich mich dann immer schämte. Ich fragte mich
- wo liegt die Schuld, die mir immer wieder unterschoben wurde? Hatten
meine Eltern wirklich das Recht, mich als die Dumme oder Unfähige zu
bezeichnen, mir für fehlende schulische Leistungen die Schuld geben?
Waren meine Rechtschreibnoten wirklich meine Schuld? Nein, ich hatte
keine andere Wahl, da das tägliche emotionale und physische Trauma die
kontrollierende Macht über meine Denken besaß und dadurch die Aufnahme
von neuen Informationen verhinderte. Ein Kind, das dem frisch erlebten
Trauma noch zu nahe ist, hat noch nicht gelernt, dieses erfolgreich zu
unterdrücken um anderweitig sozial zu funktionieren. Um so älter das
Kind wird, um so besser funktioniert die Unterdrückung, vorausgesetzt,
dass nicht noch mehr oder neue traumatische Erlebnisse täglich
hinzugefügt werden.
Meine eigenen und oft konfusen Worte waren also der Schlüssel zur
Selbstanalyse.
Nun endlich hatte ich Klarheit darüber, warum ich mich selbst als
Erwachsene nur schlecht konzentrieren konnte und absolute Stille
brauchte, um schriftliche Arbeiten anzufertigen. Später erkannte ich
eindeutig die große Diskrepanz zwischen emotionalem and logischem
Schreiben, die solch ein Trauma verursacht. Sobald ein zu
beschreibendes Thema sich einem erlebten Trauma nähert, ist die Kluft
zwischen Logik und Emotionen wieder zu erkennen. Dabei spielt keine es
Rolle, ob ich in Deutsch oder English schreibe. Einem Text den
notwendigen Ausdruck zu geben bedarf es mehrerer Korrekturen und
Überarbeitungen. Das liegt aber nicht allein am Trauma, sondern auch an
der fehlenden Zeit des Lernens der Schreibtechnik. Im Zusammenhang
erkenne ich, dass es das Trauma war, das mich am Lernen hinderte, und
umgekehrt erinnert mich die fehlende Schreibtechnik heute wieder an das
Trauma. Einen Erfolg meines Selbstheilungsprozess erkenne ich in meiner
gebesserten schriftlichen Ausdrucksform. Mein Kindheitstrauma verliert
mehr und mehr die Gewalt über meine Konzentration, ermöglicht ungestört
die Aufnahme von neuen Information und mindert den Kluft zwischen den
beiden Gehirnhälften in denen Logik und Emotionen ihren Sitz haben.
Wie wir wissen, ist das logische Denken (die linke Gehirnhälfte) Teil
einer späteren Entwicklungsphase des Menschen. Von Anfang an fertig und
intakt ist aber unsere voll funktionierende, emotionale rechte
Gehirnhälfte, die für mich das Phänomen des Üblebens repräsentiert.
Sowie auf der Welt, sind wir in der Lage Schmerz, Freude und Vergnügen
(weinen, lachen, Abwehr oder bereitwillige Annahme) auszudrücken, um
unsere Bedürfnisse zu signalisieren. Von Anfang an sind wir hilflos der
Willkür von Erwachsenen unterworfen, die diese natürlichen
Überlebensinstinkt durch Missachtung zerstören. Würden wir diese vitale
Funktion nicht durch Misshandlung verstümmeln, hätten wir später keine
Probleme die Sprache der Emotionen zu verstehen und könnten konkreter
emotionale Dysfunktionen erkennen. Leider aber leben wir nur zu gerne
mit der Illusion, dass wir alle Probleme auf logischem oder religiösem
Weg lösen könnten. Warum, frage ich, können wir dann aber seelischen
Schmerz ebenso wenig durch Erklären los werden? Unser heutiges
konstruiertes Sozialleben ist von Logik und Zwecken diktiert und das
wichtigste und natürlichste, womit wir geboren werden, die Fähigkeit zu
Fühlen, wird durch Ignoranz zerstört, vernachlässigt und ausgetrocknet.
Dazu habe ich aber eine klare Warnung: "Man kann keine emotionalen
Probleme mit logischen Theorien heilen"; allenfalls übertünchen (wieder
unterdrücken).
Wie glücklich wären wir doch, wenn wir ausschließlich mit der linken,
logischen Seite des Gehirns leben könnten. Seelenschmerz gehörte der
Vergangenheit an und ebenso alle Gefühle. Ist es nicht aber ein
Privileg der Menschen, sich mit Vorteil der beiden Gehirnhälften, der
logischen und der emotionalen Seite, zu bedienen? Missbrauch jedoch, in
welcher Form auch immer, zerstört diese zarte Balance und, früher oder
später, zeigen sich entsprechende Symptome.
In dem Maß, wie der Schmerz, durch das Schreiben ebenso wie durch die
therapeutische Arbeit, nachließ, konnte ich zunehmend mehr die rechte
und die linke Gehirnhälfte verbinden und schaffte es, die dem Anschein
noch verwirrten emotionalen Formulierungen in eine für Außenstehende
verständliche Sprache zu bringen.
Als ich endlich die schmerzhaften Erinnerungen fühlte und diesen Raum
gab, sich emotional auszudrücken, verstand ich zugleich diese auch
logisch, im Schreiben, auszudrücken. Meine beiden Gehirnhälften
schafften es endlich, den Dialog miteinander aufzunehmen und erst da
fand ich die gesuchten Antworten und Erklärungen und erkannte, wie ich
mit meinem eigenen privaten Holocaust der Kindheit umgehen könne.
Inzwischen kann ich meine Gefühle mitteilen und ausdrücken und ich
weiß, wer ich bin.
Den Anfang finden: Warum ein vom Strom des Bewusstseins getragenes Schreiben so unterstützend wirkt.
Jeder von uns ist ein Einzelwesen und sollte die Möglichkeit haben,
selbst zu entscheiden, was gut und was schlecht für ihn ist. Mit meinem
Schreiben fand ich heraus, wer der richtige Psychotherapeut für mich
ist und damit schaffte ich es auch, den zu verlassen, der meine
Bedürfnisse nicht verstand. Die Nichtbefriedigung meiner frühkindlichen
Bedürfnisse hatte sehr negativ und zerstörend auf mein Leben als
Erwachsene eingewirkt. Seitdem ich mir darüber klar wurde, lasse ich
mir eine Therapie oder Behandlung, die mir nicht wirklich das gibt, was
ich brauche, weder aufdrängen noch vorschreiben.
Wenn man genau liest, was man aus dem Gefühl heraus geschrieben hat,
dann sagt das einem auch genau, was man braucht, was einem verweigert
wurde und nach was man sich sehnt - und Heilung kann genau darauf hin
ausgerichtet werden.
Das Schreiben über den gefühlten Schmerz führt einen früher oder später
zu einleuchtenden Antworten. Denn es handelt sich dabei um die von der
eignen Emotion durchtränkte Sprache und nicht um Fremdbestimmung, nicht
um Zuschreibung und nicht um Diktat. Tief in dieser Art zu schreiben
liegt das wahre Selbst verborgen. Das Schreiben birgt die Chance, sich
selbst samt den eigenen Werten, Bedürfnissen sowie der eignen
Selbstachtung und Größe kennen zu lernen.
Über das Schreiben wurde es mir möglich, mit meinen unterdrückten
Gefühlen in Kontakt zu kommen, ein zentraler Schritt vorwärts auf
meinem Heilungsweg. Trotz der Behauptung von Psychologen, dass man auf
die Konfrontation mit der Vergangenheit auch verzichten könne, konnte
ich meine emotionalen Verletzungen nur durch die Konfrontation mit
ihnen heilen.
Alle Erwachsen, die in der Kindheit Missbrauch erleiden mussten, haben
ein Recht auf die Wahrheit und auf ein Wissen über den entsetzlichen,
langwirkenden Schaden, den die Täter und die für den Missbrauch
Verantwortliche an ihnen angerichtet haben, um das Vertrauen die
Selbstachtung und den Selbstwert wieder zu erlangen, die ihnen durch
jene geraubt wurden.
Nutze Dein Schreiben als einen Kompass in Therapiesitzungen. Es hilft,
vom Verhalten und dem Gefühl des/der Erwachsenen ausgehend, die
Verbindung zur Kindheit wiederzufinden.
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© 2004 Sieglinde W. Alexander
EMaK www.emak.org ist eine Webseite für Erwachsene Misshandelt als
Kinder. Über die Erfahrungen einer misshandelten Kindheit zu sprechen ist
oftmals der erste Schritt auf einem langen Weg die unsichtbaren Wunden
zu heilen.
-- Sieglinde W. Alexander
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