Den seelischen Mülleimer leeren:

Warum ich über meine Kindheitserfahrungen schreibe


von Sieglinde Alexander
Übersetzung: Reinhold W. Rausch

Sobald wir Erwachsene, die als Kinder misshandelt wurden, uns mit unserer Vergangenheit auseinander setzen, wird auch das Bedürfnis geweckt, diese regressiven Gedanken auszudrücken. Für den Wunsch, Gefühle mitzuteilen und nach Antworten zu suchen, ist Schreiben eine natürliche Folgereaktion, die ich nur als Selbstanalyse bezeichnen kann. Auf diesem selbstanalytischen Weg haben wir die Möglichkeit, Gedanken, Erinnerungen und Gefühle miteinander zu verbinden, was uns dem erlebten Trauma näher kommen lässt. Was aber darüber hinaus sich noch als sehr entscheidend zeigt ist, dass wir letztendlich unser verlorenes Selbstwertgefühl und die Persönlichkeit wieder finden, die durch die zugefügte Gewalt zerstört wurde. Danach haben wir die Chance unsere Bedürfnisse zu erkennen, die in frühester Kindheit nicht gestillt wurden, was sehr oft die Grundlage einer emotionalen Störung ist. Der erste Schritt, ein erlebtes Trauma zu heilen, beginnt mit Worten, die das Trauma beschreiben. Während viele dabei professionelle Hilfe in Anspruch nehmen, können andere sich das nicht leisten oder wagen diesen Schritt nicht. Meine eigenen ersten Schritte waren umständehalber Schreiben.

Als ich begann, mich mit meiner entsetzlichen Kindheit zu konfrontierten, machte ich die Entdeckung, dass das Schreiben eine positive und dauerhaft emotional heilende Wirkung hat. Darüber hinaus konnte ich, bei späterem Wiederlesen, den Fortschritt erkennen, den ich seit meinem ersten Anlauf in 1993 gemacht hatte. Das Schreiben öffnete mir auch eine davor gut verschlossene Tür zur Aufrichtigkeit mir selbst gegenüber und so tauchte die unwiderrufliche Realität meiner Vergangenheit innerlich vor mir auf. Mit jeder geschrieben Seite kam ich meinem wirklichem Ich näher. Zum ersten Mal spürte ich, dass ich es war, die mein Tun und Lassen steuern kann. Es war ein völlig neues Gefühl, nicht dem Druck zu erliegen und die Erwartungen anderer zu erfüllen, sondern nur meine Bedürfnisse auszudrücken. Ich selbst konnte entscheiden, wie aufrichtig ich sein wollte und wie tief ich in die Vergangenheit eindringen will. Vor allem aber war wichtig, dass ich keinerlei Bewertung oder Verurteilung unterworfen war, weil ich selbst entschied, wer, wenn überhaupt, von meinem tiefsten Schmerz erfahren durfte, sollte oder konnte. Diese Sicherheit war für mich unabdingbar, um genug Vertrauen und Kraft zu sammeln, um das größte und wichtigste Hindernis zu überwinden, meine Angst. Mein Leben als Erwachsene war geprägt von eingeimpfter Scham und Schuldgefühlen, die mich 42 Jahre lang daran gehindert hatten, über meine misshandelte Kindheit zu sprechen und die mich zwangen, in Selbstverleugnung zu leben.

Als ich 1993, als 43 Jährige, in tiefster Depression steckte, wollte niemand mir zuhören, noch nicht einmal mein Mann. Niemand konnte meine Ängste verstehen oder wendete sich mit den Worten ab, "lass doch die Vergangenheit ruhen". Mein Mann wie auch meine Freunde verstanden nicht, dass es genau das war, was ich seit vielen Jahren mit viel Energieaufwand und doch erfolglos versuchte - die Erinnerung zu unterdrücken. Ich hatte keine Gewalt über das Trauma, das immer wieder in irgend einer Form und meistens unkontrolliert erwachte. Getrieben, meine schmerzhaften Gedanken auszudrücken, schrieb ich, worüber ich nicht sprechen konnte. Planlos erzählte ich dem Papier, was niemand hören wollte oder nicht verstand. Ich dachte dabei zum ersten Mal weder an Grammatik noch korrigierte ich Schreibfehler. So schrieb ich in drei Monaten mehr als 400 Seiten und fühlte, wie mein alles überflutendes Scham- und Schuldgefühl langsam seine Macht über mich verlor. Das war der erste Schritt eines langenjährigen Heilungsprozess. Später, als ich das Geschriebene wieder durchsah, entdeckte ich unter anderen, scheinbar zusammenhanglosen Sätzen, eine spontane Notiz an einem Seitenrand: "Ich muss meinen seelischen Mülleimer leeren".

Jahre später machte ich beim Wiederlesen dieser Texte eine wichtige Entdeckung: Die unvollständigen und einzelne Sätze oder allein dastehende Wörter waren das Ergebnis eines spontanen Schmerzausdrucks, der aus einer inneren Tiefe sich in Worten manifestierte. Später aber verstand ich, wie diese unvollständigen, für andere scheinbar zusammenhanglosen Worte und Sätze von Zerrissenheit, Verletztheit und Verwirrtseins, der emotionale Ausdruck meines Kindheitstrauma waren. Ich erkannte, wie die große Spaltung, die zwischen meinen beiden Gehirnhälften (Logik and Emotion) durch das Erleben von Gewalt entstanden war und weshalb ich nicht in der Lage war, mich auszudrücken. Ohne Zweifel erkannte ich die ernorme zerstörerische Wirkung, die der Kindsmissbrauch zur Folge hat. Ganz klar erkannte ich die schmerzlichen Gefühle und das Trauma, noch nicht aber ihren Ursprung.

Das schreckliche Bild meiner Kindheit wurde durch diese Konfrontation immer klarer und ich fragte mich, wie konnte ich als Erwachsene funktionieren und den alltäglichen Erwartungen standhalten. Diese Frage wurde später beantwortend und ich musste erkennen, dass mein ursprüngliches Ich durch das Trauma in meiner Kindheit verändert worden war.

Mir war klar, dass all die geschriebenen Seiten zusammen Ausdruck einer spontanen, unbeabsichtigten Regression in meine Kindheit und zu dem erlebten Trauma waren. Es war eindeutig zu erkennen, dass das Wiedererleben des Traumas mich nicht nur in die zeitliche Vergangenheit führte, sondern zugleich in das altersbedingte kindliche Bewusstsein. Um so tiefer mein regressives Schreiben meine Kindheit aufzeichnete, um so begrenzter wurde mein Wortschatz. Ganz klar stellte ich fest, dass viele Seiten der Ausdruck eines sechsjährigen Kindes mit einem begrenzten Wortschatz sind. Die einfachen Worte auf dem Papier widerspiegelten eindeutig den Schmerz eines vernachlässigten und misshandelten kleinen Kindes. Andere Seiten widerspiegelten ein mehr fortgeschrittenes Stadium und klarer logisches, weiter fortgeschrittenes, wenn auch verwirrtes Denken.

Zu meiner Überraschung stellte ich fest, dass dieses Schreiben nicht nur die Gefühle meiner Kindheit aufzeichnete, sondern auch ein Ausdruck meines momentanen, erwachsenen emotionalen Zustands war, der Bewies, dass das Trauma trotz aller Versuche, es zu unterdrücken, noch immer lebendig ist.

In verschiedenen Abschnitten erkannte ich einen konfusen Teen - unfähig, unkoordiniert und überwältigt von den überfließenden emotionalen Ereignissen. So unvollständig wie die einzelnen Trauma- Erinnerungsbilder sichtbar wurden, so unvollständig waren die darüber geschriebenen Seiten. In einigen Sätzen war eine große Hilflosigkeit zu erkennen und zugleich auch das Bedürfnis nach Anschluss.

Überwältigt von diesen nun voll erwachten Emotionen reagierte ich auf manchen Seiten sogar in Abwehrhaltung. An verschieden Stellen erkannte ich mich später eindeutig als das Kind, das Abwehr-Reaktionen Leuten gegenüber zeigte, die unangenehme Forderungen an mich stellten oder mich kontrollierten wollten. Um so weiter zurück ich mit dem Beschreiben meiner Kindheit ging, um so deutlicher erkannte ich den limitierten Wortschatz eines Kindes, und zugleich kam ich dem ursprünglichen Trauma sehr nahe. Als nun mein Schreiben wie von selbst nur noch aus zerpflückten Sätze bestand, war ich unbewusst am Punkt meines Traumas angelangt. Endlich gaben meine eigenen Worte eine Antwort, nach der ich jahrelang gesucht hatte. Die ortgrafisch falschen Worte wie auch die Satzstellung löste auch ein anderes Flashback aus: wie mein Deutschlehrer in der fünften Klasse mich immer wieder ermahnte "wo bist du mit deinen Gedanken". Meine Gedanken waren während des Unterrichts bei dem kurz zuvor erlebten Trauma, den Gefühlen und Bildern wie ich die Nacht zuvor vergewaltigt wurde. In dieser Zeit, wo die Grundlagen für Grammatik gelegt wurden, war es mir nicht möglich, mich zu konzentrieren, da meine Gedanken mit schmerzhaften Erinnerungen beschäftigt waren. Die Konsequenz daraus war, dass ich deshalb das schulisch Wichtigste versäumte, was mir dann mein Leben lang als Hindernis anhing und wofür ich mich dann immer schämte. Ich fragte mich - wo liegt die Schuld, die mir immer wieder unterschoben wurde? Hatten meine Eltern wirklich das Recht, mich als die Dumme oder Unfähige zu bezeichnen, mir für fehlende schulische Leistungen die Schuld geben? Waren meine Rechtschreibnoten wirklich meine Schuld? Nein, ich hatte keine andere Wahl, da das tägliche emotionale und physische Trauma die kontrollierende Macht über meine Denken besaß und dadurch die Aufnahme von neuen Informationen verhinderte. Ein Kind, das dem frisch erlebten Trauma noch zu nahe ist, hat noch nicht gelernt, dieses erfolgreich zu unterdrücken um anderweitig sozial zu funktionieren. Um so älter das Kind wird, um so besser funktioniert die Unterdrückung, vorausgesetzt, dass nicht noch mehr oder neue traumatische Erlebnisse täglich hinzugefügt werden.

Meine eigenen und oft konfusen Worte waren also der Schlüssel zur Selbstanalyse. Nun endlich hatte ich Klarheit darüber, warum ich mich selbst als Erwachsene nur schlecht konzentrieren konnte und absolute Stille brauchte, um schriftliche Arbeiten anzufertigen. Später erkannte ich eindeutig die große Diskrepanz zwischen emotionalem and logischem Schreiben, die solch ein Trauma verursacht. Sobald ein zu beschreibendes Thema sich einem erlebten Trauma nähert, ist die Kluft zwischen Logik und Emotionen wieder zu erkennen. Dabei spielt keine es Rolle, ob ich in Deutsch oder English schreibe. Einem Text den notwendigen Ausdruck zu geben bedarf es mehrerer Korrekturen und Überarbeitungen. Das liegt aber nicht allein am Trauma, sondern auch an der fehlenden Zeit des Lernens der Schreibtechnik. Im Zusammenhang erkenne ich, dass es das Trauma war, das mich am Lernen hinderte, und umgekehrt erinnert mich die fehlende Schreibtechnik heute wieder an das Trauma. Einen Erfolg meines Selbstheilungsprozess erkenne ich in meiner gebesserten schriftlichen Ausdrucksform. Mein Kindheitstrauma verliert mehr und mehr die Gewalt über meine Konzentration, ermöglicht ungestört die Aufnahme von neuen Information und mindert den Kluft zwischen den beiden Gehirnhälften in denen Logik und Emotionen ihren Sitz haben.

Wie wir wissen, ist das logische Denken (die linke Gehirnhälfte) Teil einer späteren Entwicklungsphase des Menschen. Von Anfang an fertig und intakt ist aber unsere voll funktionierende, emotionale rechte Gehirnhälfte, die für mich das Phänomen des Üblebens repräsentiert. Sowie auf der Welt, sind wir in der Lage Schmerz, Freude und Vergnügen (weinen, lachen, Abwehr oder bereitwillige Annahme) auszudrücken, um unsere Bedürfnisse zu signalisieren. Von Anfang an sind wir hilflos der Willkür von Erwachsenen unterworfen, die diese natürlichen Überlebensinstinkt durch Missachtung zerstören. Würden wir diese vitale Funktion nicht durch Misshandlung verstümmeln, hätten wir später keine Probleme die Sprache der Emotionen zu verstehen und könnten konkreter emotionale Dysfunktionen erkennen. Leider aber leben wir nur zu gerne mit der Illusion, dass wir alle Probleme auf logischem oder religiösem Weg lösen könnten. Warum, frage ich, können wir dann aber seelischen Schmerz ebenso wenig durch Erklären los werden? Unser heutiges konstruiertes Sozialleben ist von Logik und Zwecken diktiert und das wichtigste und natürlichste, womit wir geboren werden, die Fähigkeit zu Fühlen, wird durch Ignoranz zerstört, vernachlässigt und ausgetrocknet. Dazu habe ich aber eine klare Warnung: "Man kann keine emotionalen Probleme mit logischen Theorien heilen"; allenfalls übertünchen (wieder unterdrücken).

Wie glücklich wären wir doch, wenn wir ausschließlich mit der linken, logischen Seite des Gehirns leben könnten. Seelenschmerz gehörte der Vergangenheit an und ebenso alle Gefühle. Ist es nicht aber ein Privileg der Menschen, sich mit Vorteil der beiden Gehirnhälften, der logischen und der emotionalen Seite, zu bedienen? Missbrauch jedoch, in welcher Form auch immer, zerstört diese zarte Balance und, früher oder später, zeigen sich entsprechende Symptome.

In dem Maß, wie der Schmerz, durch das Schreiben ebenso wie durch die therapeutische Arbeit, nachließ, konnte ich zunehmend mehr die rechte und die linke Gehirnhälfte verbinden und schaffte es, die dem Anschein noch verwirrten emotionalen Formulierungen in eine für Außenstehende verständliche Sprache zu bringen.

Als ich endlich die schmerzhaften Erinnerungen fühlte und diesen Raum gab, sich emotional auszudrücken, verstand ich zugleich diese auch logisch, im Schreiben, auszudrücken. Meine beiden Gehirnhälften schafften es endlich, den Dialog miteinander aufzunehmen und erst da fand ich die gesuchten Antworten und Erklärungen und erkannte, wie ich mit meinem eigenen privaten Holocaust der Kindheit umgehen könne. Inzwischen kann ich meine Gefühle mitteilen und ausdrücken und ich weiß, wer ich bin.

Den Anfang finden: Warum ein vom Strom des Bewusstseins getragenes Schreiben so unterstützend wirkt.

Jeder von uns ist ein Einzelwesen und sollte die Möglichkeit haben, selbst zu entscheiden, was gut und was schlecht für ihn ist. Mit meinem Schreiben fand ich heraus, wer der richtige Psychotherapeut für mich ist und damit schaffte ich es auch, den zu verlassen, der meine Bedürfnisse nicht verstand. Die Nichtbefriedigung meiner frühkindlichen Bedürfnisse hatte sehr negativ und zerstörend auf mein Leben als Erwachsene eingewirkt. Seitdem ich mir darüber klar wurde, lasse ich mir eine Therapie oder Behandlung, die mir nicht wirklich das gibt, was ich brauche, weder aufdrängen noch vorschreiben.

Wenn man genau liest, was man aus dem Gefühl heraus geschrieben hat, dann sagt das einem auch genau, was man braucht, was einem verweigert wurde und nach was man sich sehnt - und Heilung kann genau darauf hin ausgerichtet werden.

Das Schreiben über den gefühlten Schmerz führt einen früher oder später zu einleuchtenden Antworten. Denn es handelt sich dabei um die von der eignen Emotion durchtränkte Sprache und nicht um Fremdbestimmung, nicht um Zuschreibung und nicht um Diktat. Tief in dieser Art zu schreiben liegt das wahre Selbst verborgen. Das Schreiben birgt die Chance, sich selbst samt den eigenen Werten, Bedürfnissen sowie der eignen Selbstachtung und Größe kennen zu lernen.

Über das Schreiben wurde es mir möglich, mit meinen unterdrückten Gefühlen in Kontakt zu kommen, ein zentraler Schritt vorwärts auf meinem Heilungsweg. Trotz der Behauptung von Psychologen, dass man auf die Konfrontation mit der Vergangenheit auch verzichten könne, konnte ich meine emotionalen Verletzungen nur durch die Konfrontation mit ihnen heilen.

Alle Erwachsen, die in der Kindheit Missbrauch erleiden mussten, haben ein Recht auf die Wahrheit und auf ein Wissen über den entsetzlichen, langwirkenden Schaden, den die Täter und die für den Missbrauch Verantwortliche an ihnen angerichtet haben, um das Vertrauen die Selbstachtung und den Selbstwert wieder zu erlangen, die ihnen durch jene geraubt wurden.

Nutze Dein Schreiben als einen Kompass in Therapiesitzungen. Es hilft, vom Verhalten und dem Gefühl des/der Erwachsenen ausgehend, die Verbindung zur Kindheit wiederzufinden.
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© 2004 Sieglinde W. Alexander


EMaK www.emak.org ist eine Webseite für Erwachsene Misshandelt als Kinder. Über die Erfahrungen einer misshandelten Kindheit zu sprechen ist oftmals der erste Schritt auf einem langen Weg die unsichtbaren Wunden zu heilen.

-- Sieglinde W. Alexander



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